Die Treppe im See(67)
Ich nahm ihr den Becher ab. ?M?chten Sie noch mehr??
?Nein, es sei denn, Sie wollen in sch?tzungsweise drei Minuten jemanden mit der Klingel rufen, der die Laken wechselt.? Althea winkte matt mit einer Hand, also stellte ich den Becher neben das Foto ihres Sohnes. ?Das Zeug rutscht mittlerweile in einem durch.? Sie machte die Medikamente, die sie bekam, für ihr dünnes Blut verantwortlich.
In den Stuhl niederlassend, faltete ich die H?nde zwischen den Knien und neigte mich nach vorn zu ihr. ?Was wollten Sie mich fragen??
?Sie erw?hnten anfangs Geister.?
?Ja, und ich wollte wissen, ob Sie daran glauben.?
?Habe ich Ihnen eine Antwort gegeben?
?Nein.?
?M?chten Sie eine h?ren??
Ich fühlte, dass sie mit mir spielte, konnte aber nicht anders und grinste: ?Wenn Sie m?chten.?
Sie wieherte wie ein junges Pferd, als sie die Arme reckte und das zerknitterte Laken wieder glattstrich. Dann atmete sie flach, aber ger?uschvoll ein, derweil sie einen kritischen Blick aufsetzte, was ich auf das Bestreben hin zurückführte, meinen Charakter eingehender durchleuchten zu wollen. Sobald sie jedoch die Stimme hob, bemerkte ich, dass sie sich ihrer Jugend entsann und den verwehten Fu?spuren zurück in die Kindheit folgte.
?Im Sommer, als ich sechs Jahre alt war?, begann sie, ?schlug sich meine Mutter mit allen m?glichen Jobs kreuz und quer im Land durch. Sie müssen wissen, mein Vater war im Vorjahr mit einer anderen durchgebrannt, die er bei Orville – das war in Louisiana, wo ich aufgewachsen bin – im Drugstore kennengelernt hatte. Meine Mutter wollte das Wohlergehen ihres Kindes nicht von ihm abh?ngig machen. Er hatte uns mit nichts zurückgelassen au?er den Kleidern an unserem Leib und einem bauf?lligen Kartenhaus drüben in Cameron. Wir ben?tigten ein Auto kurz nachdem er abgehauen war, und ich erinnerte mich daran, mit Mutter zum Gebrauchtwagenh?ndler an der Best Street gegangen zu sein, wo wir einen alten Chrysler für hundertfünfundsiebzig Dollar bekamen, der aussah wie nach einem Garagenbrand und ungef?hr so verl?sslich war wie der Mann, den Mutter auf dem ganzen Weg zurück nach Cameron verfluchte.
Die Arbeit, die sie verrichtete, bestand aus regelm??igen Haushaltsdiensten an mehreren Orten in den gehobeneren Stadtvierteln. Das waren hochgiebelige Anwesen mit wei?en S?ulen und G?rten so üppig und weitl?ufig, dass man sich in der Tat darin verirren konnte. Auf ihrer Rundfahrt kehrte sie einmal pro Woche in jedem Haus ein, aber da ich zu klein war, um selbst auf mich aufzupassen, zumal es keinen Sinn ergeben h?tte, einem Babysitter mehr zu zahlen, als sie beim Reinmachen in diesen H?usern verdiente, nahm sie mich mit. Die meiste Zeit über wartete ich in den Wohnzimmern auf irgendeiner teuren Couch auf sie und hielt die H?nde fest verschr?nkt auf meinem Scho?, w?hrend ich fernsah. Mama lie? mich nichts essen oder trinken, nicht einmal einen Snack oder so, weil sie befürchtete, ich k?nne etwas verkleckern. Anderswo hockte ich an Küchentischen und malte Bilder, die ich den Eigentümern zurücklie?. Sie glauben wohl, diese Leute sahen uns als niedere Hilfskr?fte an und nicht mehr, was gr??tenteils stimmte. Andererseits müsste ich lügen, wenn ich behaupten würde, in die H?user zurückgekehrt zu sein, ohne meine Zeichnungen an den Kühlschr?nken h?ngen zu sehen, als stamme es von deren eigenen Kindern.?
Sie blinzelte versonnen. Man sah, wie viel ihr dies bedeutete.
?Am liebsten hielt ich mich bei den Mayhews auf, einem netten Paar mit drei ?lteren Kindern, die alle ausgeflogen waren, um ein College zu besuchen. Ihr Haus war ein wunderbares Stück Architektur, für dessen S?uberung meine Mutter den ganzen Tag brauchte. Aber das Beste daran stellten der abschüssige Rasen sowie die umliegenden G?rten dar, die zu einem Palmenhain führten.
Dieser beschrieb die Grenze zwischen dem Grundstück der Mayhews und dem ihrer hinteren Nachbarn. Eines Nachmittags spielte ich zwischen diesen Palmen, als ich durch die ?ste ein kleines M?dchen auf dem anderen Feld sah. Es war nur ein bisschen ?lter als ich, zierlich und bleich mit Knopfaugen wie eine eierlegende Henne. Selbst in meiner Jugend bemerkte ich ihre innere Zerbrechlichkeit. Sie trug einen Kopfschal mit Blumenmuster und hatte allem Anschein nach eine Glatze. Als sie mir winkte, freute ich mich und tat es ihr gleich, woraufhin sie loslief und in den Wald kam, wo sie sich hinter den Baumst?mmen versteckte. So spielten wir den ganzen Nachmittag lang, bis Mutter von der Gartenterrasse aus rief, es sei an der Zeit, nach Hause zu fahren.
Als wir an einem anderen Morgen wieder einmal zu den Mayhews mussten, fragte sie mich, was ich den ganzen Tag unter den Palmen trieb, also erz?hlte ich ihr von meiner neuen Freundin. Auch ihre Kopfbedeckung erw?hnte ich, und dass ich glaube, sie habe keine Haare mehr. Meine Mutter vermutete, die Kleine sei krank, weshalb ich nicht zu wild mit ihr herumtollen sollte. ?Wie hei?t sie??, wollte Mama noch wissen, da fiel mir auf, dass ich ihren Namen nicht kannte. Genauer gesagt hatten wir kaum Worte gewechselt, sondern uns nur hinter den schmalen St?mmen oder breiteren Palmenbl?ttern versteckt, wobei zwar reichlich Gel?chter aufkam, nicht aber die Frage nach ihrem oder meinem Namen. Damit hatte Mama mir einen Floh ins Ohr gesetzt. An jenem Nachmittag, als das M?dchen wieder in den Wald gelaufen kam, entdeckte sie mich hinter einem moosbewachsenen Klotz. Ich stellte mich f?rmlich vor: ?Hallo, ich hei?e Allie Coulter. Und wer bist du?? So in etwa sollte ich mich auf Mutters Gehei? hin stets bei den Leuten, für die sie arbeitete, kenntlich zeigen. Obwohl sie nichts mit den Eltern des M?dchens zu tun hatte, waren diese doch immerhin die Nachbarn der Mayhews, also hielt ich diese Formel für relativ angemessen.