Die Treppe im See(64)
?Ich bezweifle stark, dass man ihn je richtig von einem Arzt untersuchen lie??, fuhr Althea fort, ?aber für mich war das Kind autistisch veranlagt.?
?Was macht sie da so sicher??
?Ich spürte es einfach. Er hatte Kommunikationsschwierigkeiten und wusste sich nicht richtig auszudrücken. Für einen gew?hnlichen Zehnj?hrigen hing er in seinen F?higkeiten weit zurück. Er sprach abgehackt und stotterte wie der Motor eines Traktors bei K?lte. Selbst einfachste Mathematikaufgaben wurden zum Problem und er versteckte sich unterm Küchentisch. Manchmal lie? er sich mit Keksen locken, aber oft blieb er dort sitzen, bis ich aufbrach. So begann die Beziehung zwischen mir und dem Kleinen, um genau zu sein. Ich brachte Sü?igkeiten mit und bot sie ihm zu Beginn jeder Stunde an.?
?Wie verstanden Sie sich mit der Mutter??
?Sie liebte ihn sehr. Jedoch war sie als Mensch ebenfalls gebrochen. Mir kam es immer so vor, als leide sie nach irgendeinem Schicksalsschlag – vermutlich in ihrer Kindheit – unter einem Trauma. Elijahs Erziehung machte ihr zu schaffen.?
?Was wissen Sie über seinen Onkel David? Wie verhielt er sich dem Jungen gegenüber??
?Ich bekam ihn kaum zu Gesicht?, sagte sie. ?Wenn ich unter der Woche nachmittags vorbeikam, war Mr. Dentman meistens arbeiten.?
?Aber Sie sind ihm begegnet??
?Ja.? Ein beklommener Ruck ging durch Altheas Stimme. ?Zwei Tage hintereinander, als sich mein Monat bei den Dentmans zum Ende neigte, ?ffnete er mir die Haustür, nachdem ich geklopft hatte. Natürlich wusste ich, wer er war, denn der Kleine hatte zu mehreren Gelegenheiten über seinen Onkel gesprochen. Pers?nlich untergekommen war er mir bis dahin aber nicht.?
Als sie nun lange ausatmete, klang es, als drücke jemand ein Akkordeon zusammen. Dann verzog sie das Gesicht zu einem Gewirr von Falten, die wie Rinnsale auf ihre Nase zuliefen. ?Er war mir gegenüber sehr abweisend, machte auf und meinte, Elijah fühle sich nicht gut. Ich hatte den Mund halb ge?ffnet und wollte fragen, ob der Junge ernsthaft krank sei, auch weil Dentman selbst zu Hause geblieben war, doch er schlug mir die Tür vor der Nase zu, bevor ich etwas sagen konnte.?
?Das klingt ziemlich typisch?, erwiderte ich. ?Und es ist zweimal geschehen??
?Am n?chsten Tag kehrte ich zurück und klopfte wieder. Erneut ?ffnete Mister Dentman, diesmal nur einen Spaltbreit, und sprach im exakt gleichen Wortlaut zu mir, Elijah ginge es nicht gut. Er sagte es auf wie ein auswendig gelerntes Zitat, doch ich war darauf vorbereitet und kam zu Wort, ehe er wieder zumachte. ?Sie wissen sicherlich, dass das County nur wenige Krankheitstage gestattet, wenn ein Kind Heimunterricht bekommt?, sagte ich ihm. Das stimmte nicht, denn das Kind durfte genauso oft und lange krank sein wie jedes andere, aber die Ausstrahlung des Mannes beunruhigte mich. Nach dem ersten Tag hatte ich mir bereits die Nacht mit Gedanken über den Jungen um die Ohren geschlagen, und als Mister Dentman am zweiten mit der gleichen Masche kam, war mir klar, dass etwas nicht stimmte. So einfach wollte ich ihn nicht vom Haken lassen.?
?Wie hat er reagiert??
?Er musterte mich durch den Türspalt, und erst, als er ganz aufmachte, wurde mir bewusst, wie gro? der Mann war, was für breite Schultern und kr?ftige Arme er hatte. Sein Gesicht hingegen wirkte kindlich, sanftmütig und stellenweise rundlich weich, was überhaupt nicht zum Rest des K?rpers passte. Ich wei? noch, dass etwas in seinem Gesicht mein Mitleid weckte.?
?Ich habe ihn auch getroffen?, sagte ich. Anders als Althea aber hatte ich angesichts von Davids Erscheinungsbild mitnichten Mitleid empfunden.
?Er vertr?stete mich auf den folgenden Tag, wenn es Elijah wieder besser ging. ?Ich komme bestimmt wieder?, versicherte ich ihm. ?Der Kleine hat einiges nachzuarbeiten.? Wissen Sie, mit diesen Worten wollte ich durch die Blume sprechen, und ein aufgeweckterer Kerl als Mister Dentman h?tte es wahrscheinlich auch begriffen, aber ihm entging die Botschaft, die ich zu vermitteln suchte, offenbar g?nzlich.?
?Vielleicht besser so. Ich hatte den Eindruck, dass ihn verschleierte Drohgeb?rden ziemlich kaltlassen.?
?Unn?tig zu erw?hnen, dass ich tags darauf wieder auf der Matte stand, und es war, als h?tte es die beiden Vortage nie gegeben. David war nicht da, also ?ffnete Veronica, als ich klopfte. Elijah wartete bereits, und wir gingen seine übungen auf die gleiche, bew?hrte Weise durch.?
?Wie hat er sich benommen??
?Er war gewohnt still und in sich gekehrt, machte aber keineswegs den Eindruck, kürzlich krank gewesen zu sein.? Sie wusste, worauf ich aus war, und gab die Antwort der Frage vorweg, die ich als N?chstes gestellt h?tte. ?Ich untersuchte ihn rasch auf etwaige Verletzungen, natürlich. Wir sind dazu ausgebildet, das zu tun, selbst nur auf einen Verdacht hin, wenn wir das Gefühl hegen, etwas laufe aus der Bahn.?
?Haben Sie etwas entdeckt??
?Nicht die kleinste Spur? , sagte sie und ich fühlte, wie meine Zuversicht schwand.
?Ich blieb aber neugierig?, fuhr Althea fort. ?Vor dem Ende unserer Stunde sagte ich zu Elijah: ?Es sieht so aus, als fühlst du dich besser? Warst du denn gestern und vorgestern krank?? Er guckte nur mit seinen gro?en Kulleraugen und antwortete nicht, was aber nicht ungew?hnlich war, wenn man ihn kannte. Manchmal ignorierte er seine Mitmenschen bewusst, wofür er aber nichts konnte. Wie gesagt, ich war au?erstande, ihm zu helfen. Er h?tte von einem Spezialarzt behandelt werden müssen.?
?Haben Sie der Familie jemanden empfohlen??
?Ja?, platzte sie heraus – so schnell, dass sie sogar vor dem Weiterreden Luft schnappen musste. ?Ich wandte mich direkt an den Zust?ndigen auf dem Amt. Bis ich aber den n?chsten Schritt wagen konnte, durchkreuzte der Krebs meine Pl?ne, und ich musste die Stelle aufgeben. Da war es bereits Sommer, eine sehr ungünstige Zeit, um irgendwelche Amtsbeschlüsse durchzudrücken, weil man die Ferien dort genauso auskostete wie unter Schülern, wenn nicht sogar intensiver. Bevor dann das neue Schuljahr begann …?