Die Treppe im See(61)
Den Nummernschildern an den W?nden folgend, geriet ich auf einen langen, klaustrophobisch engen Flur. Er war ungew?hnlich schlecht beleuchtet, und vom Personal fehlte jede Spur, auch am Ende des Gangs, wo mehrere Schreibtische als Empfang fungierten. Diese Station suchte niemand für routinem??ige Nachuntersuchungen oder wie auch immer geartete chirurgische Eingriffe auf. Nein, dieser Ort besa? etwas Endgültiges, denn die Menschen, die hier landeten, wussten nur zu gut, dass sie ihn nie mehr verlassen würden. Das Prozedere, Patienten gesund zu entlassen, kannte man hier nicht.
Bevor ich das Zimmer aufsuchte, dessen Nummer mir Earl am Abend zuvor übermittelt hatte, zog ich mich auf eine M?nnertoilette zu einem Waschbecken zurück. Am Morgen hatte ich mich hastig geduscht, mich aber weder rasiert noch die Haare gewaschen. Mein Gesicht war blass eingefallen mit hochstehenden, schwarzen H?rchen an den Wangen, die sich wie Spinnenbeine kr?uselten. Dunkelrote Halbmonde zeichneten sich unter meinen Augen ab, die ihrerseits stark ger?tet waren und aussahen wie mit Plastiklack überzogen. In brauner Cordhose, dickem Strickpulli und Flanellweste unter meinem Skiparka sah ich aus wie ein Obdachloser, der sich gerade von drau?en ins Warme gestohlen hatte.
?H?tte mich wenigstens rasieren k?nnen?, brummelte ich mein Spiegelbild an. Dann drehte ich einen der Wasserh?hne auf, wusch mein Gesicht und strich die zu langen Haare glatt, wobei ich die Kn?tchen so gut es ging mit den Fingern l?ste.
Als jemand aus einer Kabine hinter mir trat, fuhr ich zusammen. Der Mann nickte in stiller H?flichkeit und ging hinaus, ohne sich die H?nde zu waschen. Vermutlich hatte er mein Gemurmel mitbekommen und nahm das Risiko einer von Toilettenkeimen übertragenen Krankheit in Kauf, um sich meine Gesellschaft zu ersparen.
Ich holte tief Luft, um mich ein letztes Mal im Spiegel zu mustern. Dabei dachte ich wieder an Jodies ?Ich war du?, und in meinem Kreuz zwickte es, als stiebe ein rasch verglimmender Funke dagegen.
Ich war du.
Zimmer 218 befand sich am Ende des hintersten Flurs. Die Tür war geschlossen. W?hrend ich mich mit der Topfpflanze in beiden H?nden n?herte, rechnete ich die ganze Zeit über damit, jemand tippe mir auf die Schulter und frage, wer ich sei beziehungsweise was ich hier suche. Aber nichts dergleichen passierte.
Ich stellte mir Althea Coulter vor und was ich projizierte, war eine gebrechliche, ?ltere Frau mit dunklen und vom grauen Star trüben Augen, die ihre Lippen vor Verbitterung permanent anspannte. Ihre H?nde ?hnelten Krallen – gef?hrlich hakenf?rmig wie die eines Raubvogels – und ihr dicker Kopf war unbeweglich. Der Raum würde nach schlechtem Atem, Medikamenten und einem vagen Hauch von Urin riechen. Sie schlief bestimmt. Und mir war es unm?glich sie zu wecken und ihr auch nur eine Frage zu stellen, aber selbst wenn sie wach w?re, schwebte sie gewiss l?ngst weitab in einer Traumwelt und ihre Antworten, falls sie überhaupt welche hervorbrachte, würden verworren bis unsinnig oder schlicht aus der Luft gegriffen sein. Ja, meine geistige Althea Coulter war eine uralte, mumifizierte Gliederpuppe mit Haut von der Farbe versengten Stoffes sowie einem Wollkn?uel als Gehirn.
Was zur H?lle mache ich hier?
Vor der Tür haderte ich: anklopfen oder einfach eintreten? Ich hatte einen Klo? im Hals, der in meiner Speiser?hre stecken zu bleiben schien, als ich schluckte.
Ich stehe auf einem schmalen Grat zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Ich ?ffnete und trat ein.
Die Frau im Bett mochte an die sechzig sein, obwohl sie aufgrund ihrer hohlen Wangen, spinnwebenfeiner Haare und runzliger Haut genauso gut eine vor Jahrhunderten einbalsamierte Leiche h?tte sein k?nnen, die aus einem Schaukasten gerollt war.
Ich trat so leise es mir m?glich war ein und achtete darauf, dass das Türschloss nicht laut einrastete. Der Raum war finster und muffig. Die Luft darin hei? und schwer von verschiedenen Gerüchen. Sie unterschieden sich steril voneinander: Ammoniakgestank, mit einer Note ?tzenden Urins; das sieche Odeur von Althea Coulters welkem, reglosem K?rper unter papierdünnen Krankenhauslaken. Und da war noch etwas – wenngleich nur andeutungsweise und nicht wirklich ein Geruch – ich wusste es ohne Zweifel, es war der Gestank des bevorstehenden Todes.
Sie war wach, ihr fragiler K?rper lehnte gegen einen Kissenberg. Als ich mich in die Mitte des Zimmers bewegte, drehte sie den Kopf abwesend zu mir, nur kurz und kaum geistesgegenw?rtig, ehe sie sich erneut dem einzelnen Fenster neben ihrem Bett widmete, dessen Jalousien ihr jeglichen Ausblick verwehrten.
?Miss Coulter??, fragte ich. Meine Stimme hallte im leeren Raum wider.
Sie antwortete nicht. In der Stille h?rte ich deutlich, wie sie rasselnd Luft holte. Ihr K?rper funktionierte auf Sparflamme, würde bald für immer abschalten.
Ich versuchte es erneut: ?Wie geht es Ihnen??
?Kein Hunger.? Praktisch kr?hte sie, eine angestrengte, müde Stimme, die nach ungestimmten Gitarrensaiten klang.
?Oh? entgegnete ich, ?ich bin kein Pfleger.?
Wie eine Holzpuppe drehte sich ihr Kopf langsam auf ihrem dünnen Hals, bis ich der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit war, und diesmal wirklich. Selbst für eine Farbige wirkte sie aschfahl eingedenk der aufgesprungenen Lippen. Bilder erschienen vor meinem geistigen Auge, wie die Schwestern versuchten, dieser menschlichen Vogelscheuche Blut abzunehmen und nichts au?er einer Staubwolke aufstob, sobald sie das sterbende Fleisch mit der Nadel durchstachen.
Sie musste nicht sprechen; die Frage stand in ihren Augen.
?Mein Name ist Travis Glasgow. Meine Frau und ich sind erst letzten Monat nach Westlake gezogen. Wir wohnen im ehemaligen Haus von Familie Dentman.? Ich wusste nicht, wie ich fortfahren sollte, und die Kranke starrte unbewegt. Ich hielt mich am Strohhalm fest. ?Ich soll Ihnen beste Wünsche von den Steins überbringen. übrigens gaben sie mir das hier für Sie mit.? Ich hielt ihr die Pflanze vor, obwohl ich wusste, dass sie k?rperlich nicht in der Lage dazu war, sie entgegenzunehmen.