Die Treppe im See(66)



?Ist Elijah weggerannt??

?Nein.? Speichel war in Altheas Mundwinkeln zu wei?en Bl?schen geronnen. ?Ich fragte rundheraus, ob ihm jemand wehgetan habe – seine Mama, Onkel David oder wer auch immer. Er sah mich lange an, ich erinnere mich, dass ich die Uhr im Stillen ticken h?rte. Minuten vergingen, nicht wenige, doch dann zog der Junge seine Hand unter meiner heraus und legte sie an die Brust, mit der anderen fuhr er darüber, als h?tte ich ihn verbrannt. ?Onkel David war ganz viel b?se?, antwortete er. ?Bin weggegangen.? Gerade wollte ich weitersprechen, da fiel ein Schatten über uns – die Mutter des Jungen stand in der Küchentür. Sie sah aus wie der Geist einer Frau, die auf einem Piratenschiff von der Planke gesprungen war. Sie hatte schwarze Augenringe und diese Narbe im Schl?fenbereich.? Althea hob einen ihrer streichholzdünnen Arme, dessen Ellbogen aussah wie ein knorriger Baumstumpf, und zeichnete den Verlauf der Narbe an ihrem Kopf nach. ?Gegen ihren blassen Teint sah sie leuchtend rot aus. Mich traf fast der Schlag, weil sie sich so herangeschlichen hatte.?

?Was hat sie gesagt??

?Sie behauptete, ihr Sohn fühle sich bestimmt noch ein wenig matt, weshalb es das Beste sei, wenn ich die Stunde beende und damit ich mich nicht anstecke, welche Krankheit er auch immer hatte. ?Ma‘am?, fing ich an, ?Ich glaube, auf der gesamten Welt gibt es nichts so Schlimmes, das mir der kleine Junge übertragen k?nnte, was ich nicht ohnehin schon habe.? Aber sie sagte: ?Gehen Sie bitte?, und verschwand aus dem Raum. Zu diesem Zeitpunkt habe ich beschlossen, auf dem Amt Bericht zu erstatten, was sich dort zutrug. Und der Blick, den mir die Mutter des Jungen zugeworfen hatte, ich sage Ihnen … na ja, er fuhr mir bis in die Knochen und setzte mir ?rger zu als jede Chemotherapie, die ich hatte. Ich packte mein Zeug zusammen und verlie? das Haus. In der Woche darauf verschlimmerte sich mein Zustand so sehr, dass ich mich krankmeldete. Da keine Besserung in Sicht war, quittierte ich den Dienst endgültig. Ich kehrte nie wieder zu dem Haus zurück.?

Ohne Zweifel, Althea Coulter war definitiv eine Hartgesottene, die nichts so leicht erschrecken konnte. Dennoch fragte ich mich, inwieweit der Magenkrebs sie dazu gezwungen hatte, nie wieder zum Haus der Dentmans zurückzukehren, oder ob sie ihn als Vorwand benutzt hatte.

?Wissen Sie vielleicht – ob früher schon jemand einen Vorfall von Kindesmissbrauch meldete??

?Abgesehen von meiner Andeutung auf dem Amt, etwas Seltsames geschehe in diesem Haus – ich glaube nicht. Und wissen Sie, ich habe den Beh?rden nie irgendeinen Missbrauch mitgeteilt.? Erneut verengten sich ihre Augen. Ihre Farbe erinnerte an Kerzenwachs, durchzogen von roten ?derchen. ?Sie sind mit eigentümlichem Anliegen zu mir gekommen, mein Sohn. Dass Sie das, was dem Jungen zugesto?en ist, nicht für einen Unfall halten, erw?hnten Sie bereits, aber k?nnen Sie mir auch sagen, was genau Sie hinter alledem vermuten??

?Ich glaube, er wurde umgebracht.? Die Worte brachte ich selbstsicher und vorbehaltlos heraus, denn Zweifel, die ich bis dato noch gehegt hatte, verflüchtigten sich Stück für Stück. ?Ich kann es nicht beweisen, glaube aber, dass sein Onkel es getan hat.?

Die alte Frau zog eine Augenbraue hoch, was beinahe komisch wirkte. ?Haben Sie die Polizei schon in eine Theorie eingeweiht??

?Sozusagen?, erwiderte ich und fing zu grübeln an: Welche Theorie? Ich mache bestenfalls Andeutungen, fische im Trüben und brüte über einem handgeschriebenen, unvollendeten Romanentwurf. Weder gibt es ein Motiv, noch stichhaltige Beweise. ?Mein Bruder arbeitet dort, und ich sprach mit ihm darüber.?

?Was h?lt er davon??

Ich grinste. ?Er meint, ich solle es mir aus dem Kopf schlagen. Angeblich verschwende ich meine Zeit und bewege mich im Kreis, weil ich grundlos auf der Jagd nach etwas bin, das ich zuvor blo? interessiert verfolgt habe, wie Sie es ausdrücken.?

Althea l?chelte verschroben, was ihrem vom Sterben gezeichneten Gesicht einen noch finstereren Ausdruck verlieh. Der Tod pustete ihr kalt in den Nacken, und unverhofft erhaschte ich eine Ahnung davon. Es war der abgestandene Geruch der Verwesung, fast sü?lich wie bei einer Mumie. Sie verlagerte ihr Gewicht. ?Sind Sie mit Ihren Fragen durch??

?Ja, Ma‘am.?

?Gut, denn ich habe auch eine an Sie?, kündigte sie an, ?aber um sie stellen zu k?nnen, brauche ich etwas Wasser für meinen trockenen Hals. Im Schwesternzimmer den Flur hinunter gibt es welches. Sind Sie so nett??

Ich ging hinaus. Hinter den rund aufgestellten Schreibtischelementen sa? jetzt eine attraktive junge Krankenschwester mittleren Alters mit dunkelbraunem Teint und gepflegten Z?hnen. Ich bat sie um ein Glas Wasser für Althea, und sie wollte es mir geben, fragte jedoch zuerst, ob ich mich bereits als Besucher eingetragen h?tte. Ich verneinte, woraufhin sie umso mehr strahlte und mir ein Klemmbrett vorhielt. Daran hing ein Kugelschreiber an einem Stück Faden. Aus Gründen, die mir bis heute verborgen blieben, hinterlie? ich mein Pseudonym Alexander Sharpe in Druckbuchstaben und gab ihr das Teil zurück.

?Fairer Tausch?, bemerkte die Schwester, nahm das Brett entgegen und reichte mir dafür eine halbvolle Wasserkanne von Tupperware sowie einen kleinen Plastikbecher, auf den jemand mit wischfestem Stift die Initialen des Krankenhauses geschrieben hatte.

Zurück im Zimmer, füllte ich den Becher und hielt ihn Althea hin, die wie ein Kind mit beiden H?nden zugriff. Ich schaute ihr ein wenig beklommen zu, weil ich damit rechnete, dass sie sich entweder besudelte oder jeden Moment verschluckte, aber nichts von beidem geschah.

?Ahhh?, seufzte sie, nachdem sie den Becher geleert hatte. Nun wirkte sie viel schw?cher als noch vor wenigen Augenblicken; die Todesuhr hakte eine weitere Minute ab, mit der sich Althea dem Unvermeidbaren n?herte. ?Gut, gut.?

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