Die Treppe im See(65)



?War er tot.? Ich konnte die Ereignisse mittlerweile zeitlich treffend einordnen.

?Genau. Ich wei? noch, dass ich in der Zeitung davon las. Der Kleine tat mir furchtbar leid und seine Mutter auch. Sie war selbst eine verlorene Seele. Nicht zuletzt deshalb kamen mir die beiden h?ufig vor wie zwei Teile eines Ganzen. Mit Makeln behaftete Menschen, die sich vor lauter Angst aneinander klammern, um nicht aus dem Leben zu scheiden, sobald sie einander loslassen.?

Ich nickte. Wie genau sie den Nagel damit auf den Kopf traf, erschütterte mich. ?Haben Sie Elijah an jenem Nachmittag weitere Fragen gestellt??

?Oh ja. Sehen Sie, nachdem ich einmal zu stochern begonnen hatte, konnte ich nicht mehr ablassen.? Sie hob einen Arm und packte mich am Handgelenk, und ich stellte mir vor, wie der Krebs ihr Blut unter der Haut zum Kochen brachte. ?Manchmal, wenn man etwas verfolgt, endet das manchmal in einer Jagd.?

Es ist ein Kommen und Gehen, rief ich mir wieder ins Ged?chtnis.

?Ich fragte ihn erneut, ob er wirklich krank gewesen sei?, führte sie weiter aus, ?doch er starrte mich wortlos an. Also packte ich es anders an, ich fragte ihn, ob er ?rger w?hrend der vorigen Tage hatte.? Sie senkte die Stimme, als s??en die Dentmans im Nebenzimmer, und sie wolle nicht belauscht werden. ?Wenn man Kindern untersagt bestimmte Fragen zu beantworten, werden sie nur das antworten, was man ihnen eingetrichtert hat. Geht man aber von einem anderen Punkt aus – aus einem Winkel, auf den sie nicht vorbereitet sind –, erh?lt man die Antworten, die man sucht.?

?Und welche waren das in diesem Fall??, fragte ich ebenfalls in ged?mpftem Ton.

?Er erz?hlte, sein Onkel habe ihn angeschrien wegen der Tiere. Wegen der Tiere h?tte er sich ?rger eingehandelt.?

?Welche Tiere??

?Die toten?, antwortete sie. Die Aussage lie? mein rechtes Augenlid flimmern. ?Er erz?hlte mir von seinen Scho?tieren. Wie er sie sammelte, wenn er welche im Wald entdeckte, und mit nach Hause nahm. Er erw?hnte einen Hasen und ein Eichh?rnchen – beide hatte er im Frühjahr auf dem Hof gefunden – aber er hat gesagt, er h?tte ihn wegen dem Hund angeschrien. ?Er war zu gro? und ich konnte ihn nicht verstecken?, sagte er.?

?Der Hund …? Meine Stimme verlor sich.

?Ich hatte keinen blassen Schimmer von dem, was mir der Junge begreiflich machen wollte, und das teilte ich ihm auch mit. Da stand er vom Tisch auf und fragte mich ruhig, ob ich seine Scho?tiere sehen wolle. Er h?tte noch einige versteckt, meinte er, und sein Onkel habe sie bisher noch nicht gefunden. Ich stimmte zu, woraufhin er nach oben ging. Dann nahm ich Platz, wobei ich spürte, wie der Krebs wie etwas Lebendiges in meinem Magen rumorte. Die Mutter des Jungen lie? sich w?hrend des Unterrichts nie am Tisch nieder, trieb sich aber stets irgendwo in der N?he herum, man bemerkte sie fast nicht, wie ein Gespenst. Manchmal h?rte ich sie auch durch die W?nde. Als Elijah endlich zurückkehrte, hielt er einen Schuhkarton vor der Brust. Ich fragte ihn, ob seine Scho?tiere darin wohnten, was er mit einem Nicken best?tigte und die Kiste auf den Tisch stellte. Ich bat ihn, sie ?ffnen zu dürfen, und er nickte wieder. Sie begreifen sicher langsam, wie eine Konversation mit diesem Kind ablief.?

?Ja.? Ich entsann mich mancher Sendung auf dem Discovery Channel, in der es um verwahrloste Kinder ging, die in den Elendsvierteln europ?ischer St?dte oder südamerikanischen Regenw?ldern aufwuchsen und von Hunden gro?gezogen wurden.

?So schob ich den Deckel vom Karton und sah –?

?V?gel?, nahm ich ihr die Worte vorweg. Fast war mir, als h?re ich das Ger?usch sich fügender Puzzleteile. ?Tote V?gel.?

Althea schaute mich an, als habe ich gerade das Geheimnis unserer Welt zutage gef?rdert. Dann kniff sie ihre trüben Augen fest zusammen, und einen gequ?lten, langsam verstreichenden Moment meinte ich sogar, ihr Herz gegen die zarte Wand ihres Brustkorbes pochen zu h?ren.

?Sie wissen von den V?geln?, stellte sie fest, wunderte sich nicht darüber. Falls doch, verkniff sie sich weitere Fragen darüber. ?Hinterher setzte er den Deckel wieder auf und hockte sich auf seinen Stuhl. Ich fragte, ob er wisse, dass die Tiere tot seien, was er nicht beantwortete, dafür jedoch, wo er sie fand, n?mlich im Wald unter den B?umen im Gestrüpp oder halb von Erde bedeckt.?

?Mit anderen Worten wollten Sie in Erfahrung bringen, ob er sie umbrachte?, mutma?te ich. Der Gedanke an die zerquetschten Vogelküken und den Frosch, der wie ein aufziehbares Spielzeug in meinen H?nden gezappelt hatte, lie? mich nicht los. Im Laufe der Therapie, der man mich nach Kyles Tod unterzogen hatte, sprach ich nie über diese Vorf?lle. Fraglich blieb, wie meine Psychiaterin darauf reagiert h?tte.

?Ja?, best?tigte Althea, ?aber er t?tete sie nicht. Er hat sie nur zuf?llig gefunden, so wie den Hasen und das Eichh?rnchen.?

?Sie erw?hnten den Hund.?

?Elijah sagte, er habe sein Grab zwischen den B?umen unweit des Sees entdeckt. Als er ihn ins Haus schleppte, schalt sein Onkel ihn und wies ihn an, den Kadaver wieder zurückzutragen und im Wald zu lassen. ?Und daher der ganze ?rger??, fragte ich ihn. Weder bejahte Elijah das, noch schüttelte er den Kopf, sagte nichts weiter. So versuchte ich ein letztes Mal, ihn zu einer Aussage über seinen Gesundheitszustand w?hrend der vergangenen beiden Tage zu bewegen. Schlussendlich sagte er: ?Bin weggegangen.? Ich bohrte weiter, doch er wiederholte immer das Gleiche – er sei weggegangen.?

?Wohin??

?Genau das fragte ich ihn auch: ?Wo bist du hingegangen?? Er wiederholte nur ?Bin weggegangen.? Ich fragte ihn, ob ihn jemand mitgenommen hatte. Er antwortete nicht. Er fürchtete sich – zu sehr – und ich ahnte, wenn ich es auf die Spitze trieb, würde ich ihn scheu machen, wo er gerade erst ein Stück weit aus sich herausgegangen war. Man verrennt sich, wenn man etwas zu hartn?ckig verfolgt, und das tat ich. Ich beugte mich über die Tischplatte und legte meine Hand auf seine, was an sich schon ein heikler Akt war, denn er mochte es nicht, von irgendjemandem angefasst zu werden, auch nicht von seiner Mutter. Mir war klar, dass er vielleicht aufspringen und nach nebenan laufen würde. Aber ich versuchte verzweifelt etwas herauszufinden.?

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