Die Treppe im See(70)



Wirf einen Anker aus.

Mir blieb nur noch eines; komischerweise war es etwas, worauf mich mein Bruder neulich beim Holzhacken im Hinterhof gebracht hatte: M?rder handeln nach Motiv, Unschuldige bringen Alibis hervor, und man kann niemanden nur aufgrund bestimmter Ungereimtheiten hinter Gitter stecken. Ich griff zum Telefon und h?mmerte Earls Nummer in die Tasten. Ein paarmal klingelte es, bis er sich schlaftrunken mit rauer Stimme meldete.

?Sorry, wenn ich Sie geweckt habe?, sagte ich. ?Travis hier.?

?Schie?en Sie los?, grummelte er. ?Wie lief es bei Althea??

?Sie ist eine herzensgute alte Frau, die einen qualvollen Tod stirbt. Ich bemitleide sie schrecklich.?

?Was wusste sie über die Dentmans zu erz?hlen??

Ich unterbreitete ihm die Geschichte von Elijahs omin?ser zweit?giger Erkrankung und der Erkl?rung des Jungen, er sei w?hrend jener Zeit ?weggegangen?. Au?erdem bekam Earl die Sache mit den toten Tieren zu h?ren, die der Junge gesammelt hatte, und dass sein Onkel deswegen aus der Haut gefahren sei. ?Wie heftig sein Gefühlsausbruch war?, h?ngte ich an, ?ist die Eine-Million-Dollar-Frage.?

?Haben Sie Ihre Theorie geschildert? Dass David den Kleinen ermordet hat?? Da war eine jugendliche Ausgelassenheit, die durch die Stimme des alten Mannes lief.

?Fest steht nach meinem Gespr?ch mit Althea nur, dass die Dentmans eine schr?ge Familie waren. Sie wusste auch nichts Definitives.?

?Stecken wir in einer Sackgasse fest??

Meine Augen ruhten nach wie vor auf den Fotos am Kühlschrank. ?Nicht ganz. Eine Bitte h?tte ich an Sie, und ich will ehrlich sein, ich fühle mich wie der letzte Arsch, Sie so etwas zu fragen.?

?Unsinn.?

?Ich will blo? nicht, dass Sie sich ?rger einhandeln.?

?Ich bin ein gro?er Junge. Weshalb weihen Sie mich nicht einfach in Ihren kleinen Plan ein und lassen mich dann entscheiden, wie viel ?rger ich ernten k?nnte??

Ich rückte mit meinem Plan heraus. ?Verwenden Sie einen anderen Namen?, riet ich ihm zuletzt. ?Falls Ihnen spontan keiner einf?llt, geben Sie ihnen meinen. Sie dürfen nicht mit hineingezogen werden.?

?Himmel?, raunte er und lie? einen Pfiff folgen. ?Sie k?nnen h?llisch raffiniert sein, wenn Sie wollen, Junge, ist es nicht so??

?Ich erhoffe mir nicht sonderlich viel davon. Wirklich, ich bin mir nicht einmal sicher, was Sie vorfinden werden oder was ich damit beweisen kann. Erst muss ich es mit eigenen Augen sehen.?

?Ich werde mich gleich morgen früh darum kümmern?, versprach Earl. Im Hintergrund h?rte ich eines seiner Tiere winseln. Ich rief mir den monstr?sen Wolfshund wieder vor Augen, der die Anrichte in Earls winzigem Wohnmobil bewachte.

?Seien Sie einfach vorsichtig?, bat ich und legte auf.

Gegen acht Uhr machte ich mir ein Erdnussbuttersandwich mit Marmelade und eine Tasse Kaffee. Damit und mit den Fotos vom Unglücksort zog ich mich wieder in den Keller zurück.

Ich übersehe etwas.

Etwas Wichtiges.

Unten herrschte kohlrabenschwarze Finsternis, so undurchl?ssig wie geteertes Papier. Die Glühbirne an der Decke hatte den Geist ganz aufgegeben, aber Ersatz konnte ich nicht finden, also st?berte ich eine Taschenlampe auf und leuchtete in Elijahs verborgenes Zimmer. Jemand hatte auf dem Schreibtisch eine Treppe aus seinen Holzkl?tzen aufgebaut. Ich starrte darauf, wobei ich die Tasse in einer Hand hielt und den Lichtkegel mit der anderen darauf richtete; die Bilder klemmten unter einem Arm, und der Kaffee brannte mit jedem Schluck bis in meine Zehenspitzen. Das Tolle am Kaffee ist, dachte ich, dass er einem beisteht, komme, was da wolle.

Ich setzte mich an Elijahs Schreibtisch und schaltete mit einem Klick die kleine Lampe in der Ecke ein. Eine Zeit lang besah ich die Fotos auf dem Scho? und trank. Die Kl?tze ignorierte ich solange wie m?glich, dann fing ich an, sie wie beim Mikado einen nach dem anderen wegzuziehen, bis dem Gebilde nichts mehr von seinem ursprünglichen Aussehen und Zweck anhaftete. So wurde es gleichsam zu Nonsens. Vor meinen Augen.

Ich schob eines meiner Notizbücher vor, schlug eine leere Seite auf und fing zu schreiben an. Blut tropfte aus meinem Mund auf das Blatt und mein Shirt. Als ich meine Lippen anfasste, verschmierte es meine Finger. Da wurde mir bewusst, dass ich auf dem Stift gekaut und nicht mitbekommen hatte, dass Splitter in meiner Unterlippe stecken geblieben waren. Hatte ich welche verschluckt, ohne es zu bemerken? Ich stellte mir vor, wie eine Suppe aus Holzsp?nen in meiner aufgerührten Magens?ure brodelte.

Ich fasste das Foto des Sees ins Auge, schwenke hinüber zu der Seite, auf der meine Handschrift wie Wellen auf-und abging, und wieder zurück aufs Bild. Es ist ein Kommen und Gehen, sann ich. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Dann konzentrierte ich mich auf den Abzug mit Veronica Dentman, die zwischen den B?umen stand. Tumb. Blind. Starr vor Entsetzen. Bereits tot. L?ngst gestorben, sinnierte ich. Das n?chste Bild zeigte eine Traube Polizisten, die zwischen den B?umen zum Haus schlenderten. Einige von ihnen hatten sich umgedreht, um dem Fotografen Einhalt zu gebieten. Ihre Gesichter waren aufgrund der Bewegung verwackelt und nicht zu erkennen, genauso wie die von Passagieren durch die Fenster eines vorbeibrausenden Zuges.

Ich warf einen Blick auf den Rest der Holztreppe auf dem Schreibtisch. Alle Kl?tze waren rot. Ich h?tte schw?ren k?nnen, dass beim letzten Mal, als ich hingesehen hatte, auch noch andere Farben vertreten waren. Ich schaute genauer hin, da entdeckte ich die Zeitungsberichte, die ich in der Bibliothek entwendet hatte, unter dem Gebilde. Das Foto von Elijah Dentman stierte mich finster, fast vorwurfsvoll an. An diesem Abend verhie?en seine leeren Augen unabsehbare Heimtücke.

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