Die Treppe im See(75)
?Ich habe meine Lieblingsstellen markiert?, sagte Dentman. ?Hoffentlich ist es Ihnen recht.? Er klang sarkastisch.
Ich schlug den Roman auf und bl?tterte.
Im kargen Mondlicht erkannte ich die unterstrichenen Passagen. Nachdem ich mir eine Seite ausgesucht hatte, fing ich zu lesen an. Dann schlug ich das Buch wieder zu und schob es zurück ins Handschuhfach. Der phosphoreszierende Mond zeichnete auch Dentmans Profil deutlich nach. ?Es ehrt mich, in Ihnen einen solch glühenden Fan zu haben, aber wohin zur H?lle bringen Sie mich??
?Sie müssen mir etwas erkl?ren?, verlangte er beinahe im Plauderton, w?hrend wir im forschen Tempo durch die Stadt fuhren. ?Auf wessen Leben basiert die Handlung??
?Was??
?Das ist es doch, was Sie tun, oder nicht? Das Leben anderer Leute stehlen, ihre Schicksale für Unterhaltungszwecke? Und sich daran bereichern.?
?Ich wei? verdammt noch mal nicht, wovon Sie reden.?
?Was denken Sie über mich? Was denken Sie über meine Familie??
?Sie haben den Verstand verloren?, beschied ich.
?Greifen Sie unter Ihren Sitz.?
?Nein. Genug Bullshit. Was soll das alles??
?Das frage ich Sie.?
?Sehen Sie, ich wei? nicht, was das hier werden soll. Falls es um den Karton geht, den ich Ihnen vorbeigebracht habe, dachte ich eigentlich, wir h?tten –?
?Greifen Sie unter Ihren Sitz?, wiederholte Dentman mit mehr als nur unterschwelliger Wut im Tonfall.
Widerwillig beugte ich mich nach vorn und griff mit einer Hand unter den Sitz. Mein Atem rasselte. Ich tastete den steifen Teppich ab, wusste nicht, was mich erwartete beziehungsweise was ich überhaupt suchte. Dann stie? ich mit den Fingerspitzen gegen etwas. Ich holte es hervor und legte es auf meine Oberschenkel. Wenigstens konnte ich nun die Fotos verbergen. Als ich es betrachtete, drehte sich ein dicker Klumpen in meiner Magengrube um, und ich glaubte, mich erbrechen zu müssen. Meine H?nde zitterten, und ich konnte nicht anders, als mit den Z?hnen zu klappern, dass mein Sch?del bebte. Mein Atem stockte einstweilen. Wie gern w?re ich ohnm?chtig geworden …
Auf meinem Scho? lag das vermisste Notizbuch.
Einige – nein, unz?hlige Fragen gingen mir durch den Kopf, doch mein Mund, dieses treulose Organ, versagte den Dienst.
Dentman man?vrierte den Pick-up die Hauptstra?e entlang, vorbei an den k?rglichen Gesch?ften der l?ndlichen Kleinstadt, in denen keine Lampe brannte, da sie nachts geschlossen waren. Nur die auffallend rosafarbene Reklame des Tequila Mockingbirds strahlte ihr d?mmerig pulsierendes Gaslicht ins Dunkel. Die Nacht, die gegen die Windschutzscheibe dr?ngte, wurde zu etwas Greifbarem, ein Flor aus schwarzem Samt, der sich über das Tal legte.
?W-wo haben Sie das her??, stammelte ich, als ich meine Stimme fand. Mir schwirrte der Kopf. Der kalte Schleier der Furcht legte sich auf mir nieder. Ich realisierte, dass ich die Türschl?sser noch nicht ausgewechselt hatte, seit wir in der Waterview Court wohnten. Mein Gott … Ich konnte mich weder bewegen noch atmen und war nicht dazu in der Lage, die Augen von dem Block abzuwenden, dem Deckblatt im schwarz-wei?en Muster, der Bindung und den Eselsohren.
Wir rumpelten weiter, bis Westlake eine blo?e Ahnung weit hinter uns war. Alles, was noch auf die Stadt hindeutete, waren die verblassenden Lichtspritzer im Rückspiegel des Pickups.
?Verdammter Hurensohn?, fluchte ich leise, indem ich den Block hochhob. Er schien tausend Pfund zu wiegen. ?Sie sind in mein Haus eingebrochen.?
?Das stimmt nicht.? Er beschleunigte auf siebzig Meilen die Stunde. Ich spürte, wie die Reifen auf dem glatten Asphalt durchdrehten. ?Sie haben den Kram bei mir zurückgelassen. Er steckte in der Kiste, die Sie uns brachten.?
Ich hatte Mühe, einen klaren Blick zu bewahren.
?Sie haben die Nachbarn über mich ausgefragt?, sagte Dentman. ?Glauben Sie nicht, das sei mir entgangen.?
?Ich kann es erkl?ren.?
?Sagen Sie mir lieber, weshalb mein Nachname auf diesen Seiten steht.?
?Es wird seltsam klingen, aber noch mal: Ich kann alles erkl?ren.?
?Mir gef?llt das nicht.? Er widmete seine volle Aufmerksamkeit der Dunkelheit vor uns. Darin fanden sich keine H?user, weder Laternen noch sonst etwas, das auf Zivilisation hindeutete – blo? schwarz in schwarz ein Dickicht aus B?umen, die zu beiden Seiten des Fahrzeugs vorbeihuschten. ?Mir gef?llt nicht, dass Sie in meinem Privatleben herumschnüffeln, in meinen Privatsachen.? Er hielt inne, wohl um den Worten Nachdruck zu verleihen. ?Vor allem aber gef?llt mir nicht, was Sie meiner Schwester angetan haben.?
Ich schluckte einen z?hen Brocken Speichel hinunter. ?Ich habe ihr gar nichts angetan.?
?Sie war v?llig aus der Fassung.? Dentman drehte mir den Kopf zu. Seine Augen waren g?hnend schwarze Abgründe. Ich roch, wie seine Poren Zigarettenqualm absonderten. ?Sie hat dieses Kind geliebt, und was ihm widerfahren ist, brach ihr das Herz. Was für ein kranker Arsch muss man sein, sie bis in eine andere Stadt zu verfolgen, um ihr die Trag?die noch einmal vor Augen zu führen??
?Das war nicht in meiner Absicht.?
?Oh?, h?hnte er. ?Ich kenne Ihre Absicht. Ich habe Ihre Bücher gelesen und begriffen, dass Sie sich am Elend anderer aufgeilen.?
?Es sind nur Bücher. Keine davon sind real.? Ich hielt mich mit einer Hand am Armaturenbrett fest. ?Bitte, schauen Sie auf die Stra?e.?
Er schüttelte den Kopf, als h?tte ich ihn entt?uscht. ?Sie hat mir von Ihnen erz?hlt. Sie haben über den Jungen geredet. Sie haben behauptet, ihr das ganze Zeug zurückzugeben, wenn sie wieder zum Haus kommt.?
?Nein, das ist nicht wahr. Ich habe sie nie ins Haus eingeladen.?