Die Treppe im See(77)



Er baute sich vor mir auf und packte meinen Oberarm. ?Kommen Sie.? Er versuchte, mich an den Stra?enrand zu ziehen.

?Wohin gehen wir??

?Das hier ist es doch, worum es geht, nicht wahr? Der H?hepunkt Ihrer beschissenen Story. Das ist es, auf was Ihre Leser warten, richtig??

Ich konnte nicht stehen bleiben, denn meine Fü?e gehorchten mir nicht mehr. Dentman war im Vergleich zu mir ein Riese, und es kam mir vor, als tappe ich neben einem gigantischen Glockenturm aus Stein einher. Er atmete sto?weise und ich spürte seinen Herzschlag über seinen festen Griff um meinen Ellbogen.

?Er war Autist?, hielt ich ihm vor.

David grunzte.

?Ihr Neffe. Er litt doch unter Autismus, nicht wahr??

?Sie spinnen.?

?Haben Sie ihn deshalb umgebracht – weil er anders war, und Sie ihn nicht verstanden? Wom?glich hat er Ihnen auch ein wenig Angst gemacht.?

?Sie wissen nicht, wovon Sie da sprechen.?

?Sie haben vielleicht die Bullen hinters Licht geführt, aber mich –?

Dentman zog meinen Arm zurück, kugelte mir fast die Schulter aus.

Ich strauchelte und verlor beinahe den Notizblock mitsamt den Fotos.

Er hielt mich nach wie vor am Arm fest, schwang mich herum, bis ich ihn unweigerlich anschauen musste. ?Kein … Wort … mehr?, stie? er hervor.

Mein Kopf quoll über vor Dingen, die ich sagen k?nnte, doch keines war hart genug in diesem Moment.

Wir erklommen einen verschneiten Hügel und schlitterten durch ein W?ldchen mit verschlungenen Baumkronen, die den Mond fast g?nzlich verdeckten. Ich blieb nur einmal stehen, um mir meines Verh?ngnisses klar zu werden, doch David schleifte mich weiter und ich stolperte ihm nach. Wir passierten eine lichte Baumgruppe, die sich in eine weite Lichtung ?ffnete, deren Boden mit Nebel bedeckt war. Ich war überrascht (und erleichtert), Lichter vor uns zu sehen. Wir standen vor einem, früher einmal bestimmt zehn Fu? hohen, Schmiedeeisenzaun. Hinter dem Zaun, halbmondartige Grabsteine, wie Rückenflossen auf dem schwarzen Rasen.

Ein Friedhof.

?Weiter?, dr?ngte Dentman. Er lie? meinen Arm los und bewegte sich auf den Zaun zu.

Eine Weile sah ich ihm nach, wie er voranging – sein enormer Sch?del pendelte wie bei einer kaputten Spielzeugpuppe –, dann folgte ich. Wir erreichten einen schmalen Kiesweg, der sich durch eine ?ffnung im Friedhofstor wand. Dentman trat hindurch, ohne auf mich zu warten, und bewegte sich die leichte Anh?he zwischen den Gr?bern hinauf, vorbei an Granitkreuzen, die wie Meilensteine aussahen.

Ich ging dem schwerf?lligen Koloss hinterher, da ich weniger Sorgen um meine Unbescholtenheit verspürte als Neugierde – Neugierde und Endgültigkeit. Ich überquerte den Friedhofsrasen, die anhaltende K?lte forderte schlussendlich ihren Tribut. Ich hatte einen üblen Geschmack im Mund und atmete schwer, ich spürte den Puls an meinen Unterarmen. Wir passierten ein imposantes Mausoleum sowie mehrere Grabmarkierungen, die Engeln und Sternen nachempfunden waren. Ich versuchte aufzuschlie?en und eilte einen leichten Hang hinunter. Am anderen Ende des Friedhofs unter einer hohen Eiche sah ich ihn stehen bleiben. Er lehnte halb am schmiedeeisernen Zaun und schaute auf die Erde. H?tte ich es nicht besser gewusst, k?nnte ich glauben, er habe mich vergessen.

And?chtig n?herte ich mich. Ein kr?ftiger Wind lie? die kahlen ?ste der Eiche knarren. Vor uns standen zwei Grabsteine mit jeweils einem Namen darauf.

Am ersten:

BERNARD DENTMAN

Am zweiten:

ELIJAH DENTMAN

GELIEBTER SOHN UND NEFFE

Beide mit entsprechenden Geburts-und Sterbedaten versehen.

?Ich mag nicht der klügste Mann sein, Glasgow. Ich schreibe weder Bücher, noch gehe ich mit Anzug und Krawatte zur Arbeit. Aber genauso wenig bin ich ein Idiot. Ich durchschaue Sie. Ihresgleichen denkt, sie kommen mit allem durch, mit jeder verfluchten Sache, die sie wollen. Jeder verfluchten Sache in der Welt. Sie denken, das ganze beschissene Universum zerbr?sle einfach zu Staub, sobald Sie nicht mehr da sind, um es zusammenzuhalten.?

?Das tue ich nicht.?

?Bullshit. Wissen Sie, über mich haben Sie Nachforschungen angestellt, aber dass ich das Gleiche mit Ihnen getan habe, ist Ihnen entgangen.? Er machte einen Satz auf mich zu, dass ich erschrocken aufkeuchte. Erneut drehte er mich um, dann betrachtete er den Grabstein aus hellem Granit, der noch nicht lange genug dastand, um von Schlingpflanzen und anderem Unkraut überwuchert zu sein. Geliebter Sohn und Neffe.

Ich fühlte einen Faustschlag auf meinem Rücken, zuckte vor Schmerz zusammen und lie? mein Notizbuch und die Tatortfotos fallen. Der Wind bekam die Fotos schneller zu fassen als ich und blies sie übers Friedhofsgel?nde.

?Sie knien auf dem Grab meines Neffen. Ich versuche, Ihnen ein bisschen Menschlichkeit einzubl?uen, ein wenig Ehrfurcht. Mussten Sie jemals einen leeren Sarg begraben??

?Lassen Sie … mich los …?

?Sie haben so viel über Geister, M?rder und tote Kinder geschrieben?, raunte er hinter meinem Rücken, seine Stimme getragen vom Wind. Er h?tte ebenso gut zehn Stockwerke über mir brüllen k?nnen. ?Nur zu. Frag das Grab all deine gespenstischen Fragen, die du hast, du Hurensohn. Mach schon.?

Ich wand mich in seinem Griff und forderte erneut, er solle mich verdammt noch mal loslassen.

Er tat es nicht. ?Ich brauche keinen, der in meinen Angelegenheiten herumschnüffelt. Meine Schwester verkraftet das nicht, und ich werde nicht zulassen, dass du sie weiterhin folterst.? Sein Kopf nur knapp über meiner Schulter, spürte ich seinen hei?en Atem im Nacken. ?Pass auf.? Seine Lippen berührten beinahe mein Ohr, und die Worte waren praktisch nichts weiter als ein Flüstern. ?Mein Vater war ein verkommener, elender Wichser, der mehr Unheil angerichtet hat, als irgendwer je h?tte ertragen sollen. Ich nahm meine Schwester mit und zog sie gro?. Bis zu meinem Tod geh?rt all mein Verantwortungsgefühl ihr. Bis zu meinem Tod. Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Besonders du nicht. Sie ist meine Schwester, und ich liebe sie … egal was ist.?

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