Die Treppe im See(68)



Das M?dchen antwortete mir nicht. Ihr L?cheln verschwand aus ihrem Gesicht und dann rannte sie einfach auf gleichem Weg davon. Ich schaute ihr hinterher, und gut m?glich, dass ich noch etwas gerufen habe – so lebhaft ich mich auch daran erinnere, gehen mir die Details ab –, aber sie verschwand einfach. Am Abend erz?hlte ich Mama, was passiert war, und sie meinte, das M?dchen habe vielleicht Angst vor mir bekommen, weil ich ihr anders vorkam. Dies war, wie ich sp?ter begreifen sollte, Mutters Art, den Rassenunterschied zu umschreiben, den das wei?e Kind verz?gert bemerkt hatte. In dem Alter wusste ich nichts von solchen Dingen.

In der folgenden Woche spielte ich wieder zwischen den Palmen. Das M?dchen mit dem Kopftuch n?herte sich durch den Hain und betrachtete mich mit ihren gro?en, traurigen Augen. Ich winkte ihr wieder, da machte sie kehrt und rannte, diesmal allerdings nicht, weil sie mich meiden wollte, sondern wie am Anfang zum Spa? und mit einem heiteren Grinsen in ihrem schmalen Gesichtchen. Ihre knochigen Knie kamen mir wie Robotergelenke vor, aber wir vertrieben uns den Nachmittag lang gemeinsam die Zeit, und ich fragte sie nicht mehr nach ihrem Namen.?

Etwas zog hinter Altheas Pupillen auf, wie wenn man Tinte in ein Glas klares Wasser tropfte. ?Abends, auf dem Weg von den Mayhews nach Hause, weihte mich meine Mutter ein, sie habe wegen des M?dchens nachgeforscht: ?Mr. Mayhew sagte, die Familie, die hinter seinem Grundstück wohnt, hatte einmal eine Tochter, die jedoch vor einigen Jahren an Leuk?mie gestorben ist.? Dies alles ist so lange her – viele Jahrzehnte, eine Ewigkeit –, aber wenn ich mich recht entsinne, war Mama w?hrend der Fahrt furchtbar aufgeregt. Ihre Fingerknochen zeichneten sich wei? wie Perlen am Lenkrad ab, und dabei war ihre Haut noch dunkler als meine. ?Von nun an bleibst du im Haus, w?hrend ich dort arbeite?, wies sie mich an. ?Wenn deine Freundin spielen will, soll sie dich suchen und einfach anklopfen.? In jener Nacht weinte ich deswegen, aber nicht weil ich begriffen hatte, was Mutter meinte, sondern schlicht vor Kummer, weil ich den Wald nicht mehr mit dem M?dchen unsicher machen durfte. Als wir in der Woche darauf zurückkehrten, hockte ich mich drinnen ans Fenster und schaute hinaus ins Grüne. Ich wartete in der Hoffnung, die Kleine werde wirklich anklopfen und mir damit die Freiheit schenken, aber sie kam nicht, und ich sah sie nie wieder.?

Unbehagen, das einer Seekrankheit nicht un?hnlich war, durchdrang mich in kaum merklichen Wellen.

?Wie gesagt?, hob Althea wieder an. Sie war vom vielen Reden heiser geworden. ?Mein Ged?chtnis l?sst zu wünschen übrig, wenn ich weit zurückblicken muss, aber was ich bestimmt wei?, ist, dass das M?dchen immer dieselben Kleider trug. Zudem geschah es manchmal, w?hrend wir spielten, dass ich sie nicht finden konnte, wenn sie mit dem Verstecken an der Reihe war. Einmal, als ich aufgab und zur Terrasse zurückkehrte, war ich besonders niedergeschlagen und fühlte mich ganz klein. Pl?tzlich – ich wei? es genau! – fiel mir kurz ihr blumiger Kopfschal ins Auge, also eilte ich zurück zu den Palmen. Leider war das M?dchen, als ich die Stelle erreichte, an der ich sie vermutete, wieder verschwunden.?

?Ist es nicht m?glich, dass Sie mit einem anderen M?dchen spielten? Die mit der Leuk?mie k?nnte doch schlicht irgendjemand anders gewesen sein.?

?Natürlich.? Althea r?chelte. Ich schenkte ihr neues Wasser ein, das sie jedoch nicht sofort trank. ?Alles w?re m?glich, aber das ist es nicht, was ich glaube.?

?Falls sie ein Geist war?, erwiderte ich. ?Wie kann es sein, dass Sie sie sahen??

?Vielleicht ist dies das gr??ere Mysterium.? Sie legte ihre beiden mageren H?nde um den Plastikbecher, setzte an und schlürfte laut; dann stellte sie ihn auf dem Nachtschrank ab. ?Ich würde gern glauben, dass sie mit mir fühlte, weil ich in jenem Sommer so allein war und mich nach Freundschaft sehnte.? Sie l?chelte müde. Ihr Kopf kam mir dabei vor wie ein Kürbis, den man nach Halloween zum Faulen stehen gelassen hatte. ?Geister sind nicht weniger real als alles andere in diesem gro?en, weiten Universum. Weshalb sollten sie nicht existieren? Glauben Sie nicht an die Seele, die den Menschen erst ausmacht? Folglich muss die auch weiterleben, losgel?st vom K?rper, wenn er l?ngst gestorben ist. Jedem Grundschüler bringt man jene alte Weisheit bei: Materie kann weder erschaffen noch zerst?rt werden, korrekt??

?Okay, klar.? Das hatte man mir in der sechsten Klasse gelehrt, und ich sah das Bild meines stocksteifen Physiklehrers vor mir, der mit Isolierband geflickte Hausschuhe sowie ein urkomisches Toupet getragen hatte und gerade Wasser in einem Kolben über einem Bunsenbrenner zum Sieden brachte.

?Es ist wahr. Materie kann weder erschaffen noch zerst?rt werden. Warum sollte die Seele von solchen Universalgesetzen ausgenommen sein?? Was Althea dann sagte, sollte mir nachhaltig im Ged?chtnis bleiben. Es klang so schlicht und ergreifend, dass es wegen seines Wahrheitsgehaltes in mir widerhallte wie eine Mahnglocke: ?Die Natur kennt kein Aussterben. Sie kennt nur Ver?nderung. Metamorphose. Sie wei?, dass die Seele, wenn sie einen K?rper verl?sst, dessen Licht ausgegangen ist, allein schon aus Definitionswegen irgendwo unterkommen muss. Glaubt man aber weder an Gott oder ein anderes h?heres Wesen noch an Himmel und H?lle – wohin zieht die Seele dann??

?Hierher?, antwortete ich, und es war, als h?tte sie mir das Wort entrungen. Ich hatte nicht einmal nachgedacht. ?Sie bleiben einfach bei uns.?

?Als Geister?, erg?nzte sie.

?Als Geister?, wiederholte ich l?chelnd, obwohl ich es gar nicht wollte.

Sie schloss die Augen und lie? den Kopf tief in die Kissen sacken. Dass ihre Pein zugenommen hatte, war offensichtlich, doch gleichzeitig erkannte ich, dass sie versuchte, ihr Unwohlsein vor mir zu verbergen. Gerade als ich glaubte, sie sei endlich eingeschlafen, schlug sie die Augen wieder auf und sah sich nach mir um, als h?tte sie vergessen, wo ich sa?.

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