Die Treppe im See(62)



Etwas in ihrem Gesicht beschied mir, dass sie sich nicht mehr an die Steins erinnerte. Mich überkam ein starkes Gefühl von Niedergeschlagenheit. Mein Vorhaben, so schien es, erwies sich als Reinfall auf allen Ebenen.

Althea schnitt eine Grimasse, indem sie die Lippen schürzte, um ihren Sprechapparat in Gang zu setzen. Als es ihr gelang, knarrte die Stimme wie ein zugehender Sargdeckel. ?Stellen Sie sie dorthin, Sohn, damit ich die Blüten riechen kann.?

Ich ging um das Bett und platzierte den Topf auf einem niedrigen Nachtschrank aus kühlem Industriestahl. Darauf stand sonst nur das Foto eines freundlich dreinschauenden Jungen mit dunkelblauer Mütze und farblich passenden Kleidern. Ich fragte mich, ob er der Sohn war, den Earl am Telefon erw?hnt hatte.

?Wie, sagten Sie, war Ihr Name??

?Travis Glasgow. Ich hoffe, ich st?re Sie nicht, Ma‘am.?

Sie gl?ttete mit steifen H?nden die Decke vor sich. In einem ihrer spindeldürren Arme steckte eine Infusionsnadel. ?Sehe ich aus, als h?tte ich viel zu tun??

Ich schenkte ihr ein schiefes Grinsen. ?Nein, Ma‘am.?

Ihre Unterlippe zitterte, als sie die Stirn in Falten legte. ?Sie sagten, Sie leben nun wo??

?Im früheren Haus der Dentmans in Westlake. Dem mit dem See dahinter.?

?Das Haus der Dentmans?, wiederholte sie. Im Hinblick auf ihre Verfassung war es unm?glich, ihren Tonfall zu deuten.

?Sie gaben dem Sohn der Familie Unterricht, nicht wahr? Elijah Dentman??

Die Krankheit hatte Altheas Auffassungsgabe scheinbar nicht in Mitleidenschaft gezogen, denn sie bemerkte, wie unwohl mir bei dieser Frage war, sann eine Weile schweigend nach und wartete, ob noch etwas nachkam. Ich lauschte ihrem R?cheln und hielt sie nicht zur Eile an. Schlie?lich fragte sie: ?Sind Sie ein Freund der Dentmans??

?Eigentlich nicht, Ma‘am. Ich h?rte ehrlich gesagt erst von ihnen, als wir in ihr Haus zogen.?

?Also warum sind Sie hier? Ich freue mich über Gesellschaft, Gott wei?, aber ich verstehe es nicht. Den ganzen Weg, nur um mir diese Pflanze zu bringen??

Das machte aus meinem L?cheln ein nerv?ses L?cheln. Und das wiederum brachte Althea zum L?cheln. Ihre vergilbten Z?hne sahen nach Plastik aus – wie von einem Skelett beziehungsweise einer Leiche.

Meine fahrigen H?nde verrieten mich, als ich einen Faden von meinem Parka zupfte. Schlagartig wurde ich dessen gewahr, also begann ich, den Rei?verschluss aufzuziehen, wobei ich mich aber unterbrach. ?Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein wenig unterhalten??

?Besuch bekomme ich ansonsten nur von Michael?, antwortete sie betrübt, ?und der schenkt mir kein Grünzeug, also dürfen Sie gern bleiben – es sei denn, Sie werden meiner überdrüssig.?

Ich zog den Parka aus und h?ngte ihn über die Lehne eines Klappstuhls aus Metall neben dem Nachtschrank. Dann nahm ich darauf Platz und betrachtete erneut das gerahmte Bild des hübschen Kerls mit Mütze in feinem Zwirn. ?Ist das Michael??

?Mein Sohn, ja.? Diesmal schwangen eindeutig Gefühle mit. ?Zudem mein einziges Kind und ein guter Junge, oh ja. Sicher, er ringt wie jedermann mit seinen D?monen, aber ich lasse nichts über ihn kommen.?

?Er sieht gut aus, sportlich.?

?Das Bild entstand, als er seinen Abschluss am College machte. Sehen Sie? Vorher hat niemand aus meiner Familie das geschafft. Er bekam sogar ein Stipendium, stellen Sie sich vor.?

?Gut für ihn.?

?Jetzt braucht er nur noch einen besseren Job. Die Jugend heutzutage hat es nicht leicht, etwas zu finden, wenn sie die Schule verl?sst.?

?Besucht er sie oft??

?Nicht mehr. Es ist hart für ihn. Ich nehme es ihm nicht übel.?

?Meine Mutter starb vor mehreren Jahren an Brustkrebs. Sie k?mpfte eine Weile. Es war schwer für sie. Für meinen Bruder und mich auch.? Natürlich musste ich dabei wieder an ihre Beerdigung denken und wie Jodie mich in Rage aus Adams Haus geschleift hatte.

?Ich habe es im Magen?, sagte Althea. ?Sie schnitten Stückchen heraus. Ein bisschen schnipp-schnipp hier, ein bisschen dort, aber es liegt nicht an den Schmerzen, dass es so schrecklich ist. Es sind die Beschwerden. Morgens wird mir regelm??ig übel. Es ist hart etwas zu essen. Noch dazu kann ich nachts nicht schlafen.?

?Und man kann nicht mehr für Sie tun??

?Was denn? Was bleibt übrig? Schauen Sie sich die hier an.?

Sie streckte vorsichtig die Arme aus. Diese waren so dünn und r?hrenf?rmig wie Papprollen von Klopapier. Ein Netz dicker, blauschwarzer Adern schimmerte unter ihrer Haut. ?Ausgezehrt. Sie stechen mich mit Nadeln, dass ich mir vorkomme wie ein Sieb.? Sie klang nicht verdrossen, sondern im Gegenteil unterschwellig humorvoll. Dann seufzte sie. ?Wir schie?en Astronauten auf den Mond, Radiowellen durch den ?ther und was sonst noch alles, doch die Geheimnisse hier unten auf der Erde, die R?tsel des menschlichen K?rpers bleiben weiterhin unergründet.?

?Tut mir leid?, bekundete ich. ?Ich gehe lieber, wenn ich Sie zu sehr aufrege.?

Althea schien, als wolle sie mit einer Hand abwinken. ?Der Tod ist das, was mich aufregt. Die Leute sind flüchtige Erscheinungen, die ein-und ausgehen. Man h?rt zu, l?sst sich Krankengeschichten erz?hlen und tauscht sie aus wie Baseballkarten. Welcher normale Mensch will das aber??

?Ich nicht.?

?Ich auch nicht.? Sie schaute zuerst auf mich und dann auf ihren Michael, was mich glauben lie?, sie suche nach irgendeiner Gemeinsamkeit zwischen uns, obwohl sie nur schwerlich fündig würde. ?Sie sagten, Sie seien verheiratet, bilde ich mir ein. Haben Sie auch Kinder??

?Nein, Ma‘am.?

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