Die Treppe im See(59)
So lie? ich mich von meinen eigenen Worten zum fehlenden Puzzleteil leiten, indem ich ausladende Beschreibungen zu jedem von Earls Schnappschüssen verfasste – das ledrig graue Wasser und die krumme Treppe, die aus der glasigen Oberfl?che emporstieg, die Streifenwagen vor üppig grüner Sommervegetation unter vorbeifliegenden Cumuluswolken am Horizont. Ich verlieh Veronicas leerem Blick Ausdruck und enthob Davids von Polizeimützen nahezu verdecktes Gesicht der Unkenntlichkeit.
(Obwohl ich es nicht mit Gewissheit sagen konnte, würde ich schw?ren, dass w?hrend des Schreibprozesses etwas hinter mir lauerte – unterschwellig, z?gerlich – und anfing, die Holzkl?tze am Boden erneut aufzutürmen. Dessen wurde ich nur vage, wie in geistiger Umnachtung, ?hnlich einem Trinker gewahr, der seine Eskapaden am Morgen nach dem Zechen nur bruchstückhaft rekapitulierte.)
Ich war so ins Formulieren und Betrachten der Fotos vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie Jodie die Kellertreppe herunterkam. Als sie sich r?usperte, um ihrem Groll Luft zu verschaffen, ging ich vor Schreck beinahe an die Decke.
?Jesus?, rief ich mit rasendem Puls.
?Was treibst du hier?? Sie lehnte mit verschr?nkten Armen vor der Brust an dem Loch in der Wand. Ob bewusst oder nicht, wagte sie keinen Schritt herein.
?Was soll ich schon treiben?? Rasch schob ich einen der Bl?cke über die Fotos.
?Dieses Zimmer?, begann Jodie. ?Diese Sachen. Ich dachte, du wolltest sie abholen lassen.?
?Wollte ich.?
?Und wo liegt das Problem??
Ich war versucht, sie anzulügen.
Ehe ich mir jedoch eine Antwort zurechtgelegt hatte, zerstob sie meine Gedanken. ?Du machst mir Angst. Mit dir stimmt etwas nicht.?
?Liebes …?
?Spiel es nicht herunter. Hast du in letzter Zeit einmal in den Spiegel geschaut? Du siehst beschissen aus.?
?Ich wei?. Ich wei?. Aber ich stehe kurz vorm Durchbruch.?
?Kurz vorm Durchbruch?, sprach sie mir nach. ?Wahnsinn trifft es wohl eher.?
?Ich versuche blo?, mir etwas begreiflich zu machen.?
Sie tippte sich mit zwei Fingern ans Kinn und sah aus, als k?men ihr gleich die Tr?nen. Bei den folgenden Worten zitterte ihre Stimme: ?Adam meint, du besuchst nacheinander alle Nachbarn und fragst sie über den Jungen aus, der hier gestorben ist.?
?Adam begreift das nicht.? Ich musste mich zusammenrei?en, um nicht aufzubrausen. Am liebsten h?tte ich ihn als Hurensohn bezeichnet, der seine Nase in seine eigenen Angelegenheiten stecken sollte. ?Was mit dem Jungen geschah, war kein Unfall. Es war Mord.?
Mir gefiel es nicht, wie Jodie mich anblickte – wie einen Fremden, und sie wolle ergründen, wo ich hergekommen war.
?Adam sorgt sich um dich.? Sie überging mich, als h?tte ich nichts gesagt. ?So wie ich.?
?Dazu besteht kein Grund. Ehrenwort.?
?Ich befürchte nur, du tust es wieder …?
?Was wieder??
?Das Gleiche wie nach der Beerdigung deiner Mutter. Du wurdest depressiv und kamst nicht aus dem Bett. Dein Zwangsverhalten … du bist auf dem besten Wege zurück in diesen Zustand.? Ihre Stimme überschlug sich. ?Du sitzt hier unten in diesem bedrückenden gottverdammten Sarg von einem Zimmer und spinnst dir Geschichten über tote Kinder zurecht. Ich finde das furchtbar.?
Irgendwie gelang es mir, ihr ein schwaches, harmloses L?cheln zu schenken. ?Du hast es eben vor zehn Minuten gesagt – es liegt am Stress. Ich bin zu angespannt, du hast ja recht.?
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren mit Tr?nen gefüllt.
?Oben, schon vergessen? Du hast gemeint, ich solle mir eine mehrt?gige Auszeit g?nnen. Wir k?nnten gemeinsam etwas –?
Jodies Kopfbewegung wurde immer vehementer. ?Nein?, wisperte sie. ?Nein, Travis. Das war gestern Abend, nicht vor zehn Minuten. Du sitzt jetzt schon fast einen ganzen Tag hier.?
Das kam mir so absurd vor, dass ich losprustete. Rückblickend sch?tze ich, dieses Lachen schockierte sie mehr, als dass es Spannungen abbaute; zugegebenerma?en war es um meinen Geisteszustand damals nicht zum Besten bestellt. ?Wovon sprichst du??
?Du bist seit gestern Abend hier.?
?Das ist nicht –? Ich schnitt mir selbst das Wort ab. Mein Kopf schwirrte wie ein Feuerwerksk?rper. Verzweifelt versuchte ich die Stücke zusammenzufügen, die Uhrzeit und das Datum, aber es gelang mir nicht. War es tats?chlich denkbar? ?Jodie …? Ich ging einen Schritt auf sie zu.
Sie trat einen zurück und hielt beide H?nde vor. ?Nein. Stop.?
?Babe –?
?Schluss jetzt. Ich will, dass du damit aufh?rst. Mach dich davon los.?
?Ich bin nicht –?
?Du jagst mir eine Heidenangst ein.?
Ich blieb mit einem Fu? über der Schwelle des verstecken Zimmers stehen. Jodie hatte sich zu Waschmaschine und Trockner geflüchtet. Sie streckte die Arme nach wie vor abwehrend von sich, dass es mir das Herz brach. Meine Frau war eindeutig und tats?chlich verst?rt, ihre Furcht vor mir indes unbegründet, denn ich hatte weder an sie noch sonst jemals gewaltsam Hand an das weibliche Geschlecht gelegt. Sie brachte mich zum Zittern.
?Hab keine Angst vor mir.?
?Ich habe keine Angst vor dir, sondern um dich.?
?H?r zu –?
?Nein, h?r auf.? Sie holte bebend Luft. ?Versteh mich und sei nicht b?se. Ich werde über Nacht bei Beth und Adam bleiben. Du sollst wissen, dass ich dieses Haus nicht wieder betreten werde, bis dieses Zimmer ger?umt ist, du den ganzen Plunder fortgeschafft und die Wand geschlossen hast. Hast du mich verstanden??
?Du überreagierst.?