Die Treppe im See(54)



?Ich bin ein M?chtegern-Reporter und arbeite bei einem kleinen Lokalblatt, also werde ich nicht so tun, als verstünde ich, wie ein kreativer Geist tickt?, erwiderte Earl, ?aber meinen Sie damit, Sie schreiben ein Buch über die Dentmans??

?Nicht direkt. Es ist schwer zu erkl?ren.? Kurzzeitig fühlte ich mich versucht, ihm von Kyle zu erz?hlen – was mich zutiefst entsetzte, denn nicht einmal Jodie kannte die Wahrheit, und diesen Mann hatte ich gerade erst kennengelernt –, wich dann aber aus. ?So hat es begonnen, die Story wuchs weiter. Die Charaktere entwickelten aufgrund der Parameter, die ich vorgab, ein Eigenleben. Aber jetzt …? Meine Stimme versiegte, denn ich wusste nicht, wie ich den Gedankengang zu Ende formulieren sollte.

?Das Folgende basiert auf einer wahren Begebenheit?, sagte Earl glucksend. ?Lediglich die Namen der Beteiligten wurden ver?ndert, um Unschuldige zu schützen und so weiter …?

?Genau?, stimmte ich zu, aber ich fühlte mich, als würde ich diesen alten Mann an der Nase herumführen. Ich hatte keinen einzigen Namen ge?ndert; in meinem Text wimmelte es von den rechtschaffenen Bürgern aus Westlake, Maryland. Nicht einmal Tooey Jones und sein Tonic blieb unerw?hnt.

Earl atmete ger?uschvoll aus, wobei seine Nasenl?cher vibrierten. ?Vorab m?chte ich Ihnen noch etwas zeigen.? Er schlurfte hinüber zu einer Anrichte, die unter Papierst??en und unge?ffneter Post zusammenzubrechen drohte. Summend sortierte er einen Stapel, w?hrend er mir den Rücken zukehrte.

Ich begann, einen irischen Wolfshund, der mir neben der Kredenz auffiel, zu begutachten, er war noch struppiger als der Teppich und fast so gro? wie ein Mensch. Unter den Fransen blickten mich zwei seelenvolle Augen an. Irgendwo im Schatten begann ein Heizlüfter surrend, seinen Dienst zu verrichten.

?Ah, da ist es ja.? Earl kam zurück an den Tisch. Das Ger?usch, das er machte, als er sich wieder auf den Stuhl fallen lie?, klang nach einer alten Fahrradhupe.

Er überreichte mir ein grobk?rniges Foto eines Mannes mit abgeschnittener Jeans und Tr?gerhemd, der gerade mit einem Waschlappen über die Windschutzscheibe eines gelben Pontiac Firebirds wischte. Er mochte Mitte vierzig sein, allerdings war das Bild unscharf, was eine stichhaltige Einsch?tzung unm?glich machte.

?Wer ist das??, fragte ich.

?Mein Sohn.?

Ich hatte keine Ahnung, wohin das führen sollte, also schob ich ihm das Foto wieder zu, ohne mehr zu sagen.

?Aus einer unvorsichtigen Aff?re in meiner Jugend?, erkl?rte Earl, indem er es an sich nahm und es betrachtete, mit einer Mischung aus Sehnsucht und Bedauern, wie mir schien. ?Es weiter zu erl?utern, ist mü?ig, aber ich musste es Ihnen einfach zeigen, weil Sie mich, warum auch immer, an ihn erinnern. Nicht weil Sie ihm irgendwie ?hneln, und wenn ich vollkommen ehrlich sein soll, habe ich niemals Zeit mit dem Jungen verbracht, weshalb ich auch nicht sagen kann, ob Sie beide gewisse Eigenarten teilen. Ich sch?tze, Sie sind so, wie ich mir ihn bisweilen vorstelle.? Er legte das Foto zurück zu den Papieren auf der Anrichte. ?Tut mir leid.?

?Es ist okay?, beruhigte ich ihn, obwohl mir nach wie vor nicht einleuchtete, warum er mir das Bild gezeigt hatte.

?So will ich auf indirektem Wege begreiflich machen, weshalb ich Ihnen alles Weitere zeigen werde. Irgendwie fühle ich mich Ihnen wohl verbunden beziehungsweise vertraue darauf, dass Sie mich nicht ausnutzen. Sch?n und gut, wenn Sie behaupten, Sie schreiben ein neues Buch, aber was ich Ihnen nun offenbare, darf niemand au?erhalb dieser vier W?nde erfahren.? Er hustete rasselnd in eine Faust und fuhr fort: ?Gewiss, Sie sind ein Fremder für mich, aber etwas sagt mir, dass ich auf ihr Schweigen bauen kann. Vielleicht bin ich aber blo? ein alter Einfaltspinsel. Allerdings hat mich der Instinkt über all die Jahre hinweg nie get?uscht. Hoffentlich sind Sie nicht derjenige, der ihn widerlegt.?

?Ich schw?re?, versprach ich, ?was Sie sagen, bleibt unter uns.?

Earl nahm sich die Mappe vor. ?Es geht weniger darum als um die Umst?nde, wie ich darauf gesto?en bin.? Er zog das Verschlussband auf und ?ffnete sie. Ein Haufen bunter Bl?tter fiel heraus. Er überreichte mir einen Packen Papier, der mit einer Büroklammer zusammengehalten wurde.

Auf der ersten Seite fiel mir gleich David Dentmans Name ins Auge, dazu seine Adresse in West Cumberland sowie weitere Angaben zu seiner Person – Sozialversicherungsnummer, Telefonnummer, Geburtsdatum. ?Was ist das hier??

?David Dentmans Strafakte.?

Ich überflog die Seiten beim Durchbl?ttern. ?Wie haben Sie die bekommen??

?Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Allein sie zu haben, ist wahrscheinlich schon illegal, ich m?chte da keinen mit hineinziehen.?

?Dann frage ich nicht noch einmal.? Ich hielt inne, um mir eines der Bl?tter genauer anzusehen. ?Drei Festnahmen. Wenn ich richtig lese, und …?

?Oh?, versicherte Earl. ?Da lesen Sie richtig.?

?Zweimal wegen schwerer K?rperverletzung, einmal … was bedeutet T und B??

?T?tliche Beleidigung.?

?Jesus Christus.? Ich las es mir genauer durch. ?Was hei?t ?nol pros???

?Das ist Latein und steht für nolle prosequi. Das bedeutet, er kam in Arrest, wurde aber nicht vor Gericht gestellt.?

?Also ist er in allen drei F?llen davongekommen??

?So steht es da.?

?Wie kann das sein??

Earl zuckte mit den Schultern und kratzte mit seinen B?renpranken über das stoppelige Kinn. ?Aus verschiedenen Gründen. Nicht genügend Beweise. Oder die Opfer haben die Anklagen fallen gelassen.?

?Wer sind die Opfer??

?Keinen Ahnung.?

Ich las erneut die Seiten. ?Das jüngste Vergehen liegt nur drei Jahre zurück. Die t?tliche Beleidigung. Sprechen wir hier von einer Schl?gerei in einer Bar oder …??

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