Die Treppe im See(52)



?Reizende Frau?, befand er, als sie gegangen war.

?Sind Sie auch verheiratet??

?Sie sprechen mit einem Junggesellen ersten Ranges.? Er zwinkerte mir zu, wobei seine Augen funkelten. ?Das hei?t aber nicht, dass ich noch nie verliebt gewesen bin. Auch mir hat man mehrmals das Herz gebrochen.?

?Wie lange arbeiten Sie schon für die Zeitung??

?Himmel.? Er st?hnte und lehnte sich im Sessel zurück. Er wirkte zu gro? dafür, denn er musste die überlangen Beine unbequem verdrehen. ?Wahrscheinlich schon seit gut zehn Jahren, kurz nachdem ich in der Mühle aufh?rte.?

?Wissen Sie etwas von dem Jungen, der in diesem Haus lebte und im See ertrunken ist??

Er presste zwei Finger gegen seine Stirn und er klang fast so, als sage er ein Gedicht auf: ?Elijah Dentman, zehn Jahre alt. Mutter Veronica, kein Vater.?

?Gutes Erinnerungsverm?gen. Wissen Sie, wer von der Zeitung die Story damals, als es passierte, übernahm??

?Sicherlich?, antwortete er. ?Ich.?

Ich blinzelte. ?Kein Scherz??

?Wie gesagt, ich bin für die Lokalpresse eine Art Woodward und Bernstein hier.? Er trommelte mit den Fingern an der Kamera vor seiner Brust. ?Vermutlich auch eine m?nnliche Annie Leibovitz.?

?Ich habe den Artikel zu dem Vorfall gelesen?, gestand ich und beugte mich auf dem Sofa nach vorn.

?Also, auch wenn ich mich vorhin noch über die langweiligen Themen beschwerte, die sich hier für eine Zeitung ergeben, muss ich gestehen, dass ich gern über Kuchenesswettbewerbe und Rassehunde schreibe, solange ich mich nie wieder mit so etwas befassen muss.?

?Waren Sie dabei, als man den Leichnam suchte??

?Den ganzen Abend lang bis weit in die Nacht. Ich zog mich erst zurück, als die Taucher am frühen Morgen aufgaben.?

?Ohne fündig geworden zu sein?, entgegnete ich. Es war keine Frage, sondern ein Test, inwieweit wir auf gleicher Welle lagen.

?Ohne fündig geworden zu sein?, sprach er mir nach. Wir schauten einander an, und zwar einen Augenblick l?nger als notwendig.

?Finden Sie das nicht ungew?hnlich? Ein spurlos verschwundener Toter in einem stehenden Gew?sser??

Earl antwortete nicht sofort, weshalb ich dachte, ich h?tte ihn vielleicht irgendwie beleidigt. Dann aber r?usperte er sich und blickte über seine Schulter nach hinten, wohl um sicherzugehen, dass Jodie uns nicht h?rte. ?Das Schicksal des Kleinen ist in vielerlei Hinsicht ungew?hnlich, und die verschollene Leiche nur die Spitze des Eisberges. Ich nehme an, Ihre Frau wei? nichts von dem, was passiert ist, weil Sie es gerade jetzt ansprechen.?

?Sie wei?, dass ein Junge im See ertrunken ist, mehr nicht. Die Einzelheiten haben sie nicht interessiert.?

?Darf ich fragen, weshalb Sie sich überhaupt dafür interessieren? Falls es mich nichts angeht, sagen Sie es mir, und ich bin ruhig.?

?Ich glaube, man hat etwas übersehen?, erkl?rte ich. ?Die Polizei wusste angesichts eines solchen Unglücks vermutlich nicht, wie Sie im Rahmen der Ermittlungen vorgehen sollte, weshalb man nicht jeder Spur nachgegangen ist. Ich denke nicht, dass ein Kind ohne weiteres in einem Gew?sser ertrinkt und dann auch noch wie vom Erdboden verschluckt bleibt. Daran ?ndert auch der Umstand nichts, dass die Einsatzkr?fte erst mehrere Stunden, nachdem es geschehen war, zur Tat geschritten sind.?

?Worauf wollen Sie hinaus??

?Ich glaube, Elijah Dentman wurde ermordet.? Diesen Gedanken hegte ich bereits seit einer Weile, nicht blo? als Romanstoff, sondern auch mit Bezug auf den wirklichen Vorfall. Die Hinweise passten noch nicht so recht zusammen, um ein klares Bild zu zeichnen, aber was mich felsenfest davon überzeugte, war mein Besuch in West Cumberland, wo ich David Dentman von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat.

überraschenderweise konnte Earl durchaus etwas mit meinem Verdacht anfangen – nein, er schien ihn sogar regelrecht zu teilen. ?Schwebt Ihnen ein m?glicher T?ter vor??

?K?nnte jeder gewesen sein, sch?tze ich. Vielleicht ein Herumtreiber, der am Wasser auf den Jungen gesto?en ist, oder irgendwer, der ihn aus der Stadt kannte.?

Der alte Mann schüttelte den Kopf. ?Nein, das glauben Sie nicht ernsthaft. Sagen Sie mir, was Sie wirklich denken.?

?Ich glaube, David Dentman hat es getan.? Ich fühlte mich fast wie im Beichtstuhl. ?Wenn Sie mich fragen, hat sein Onkel ihn ermordet.?

Fast beil?ufig fragte Earl: ?H?tte er ein Motiv gehabt??

?Gut m?glich. Welches genau, wei? ich nicht, falls Sie das als N?chstes wissen wollen.? Mir war natürlich klar, dass Motive im wirklichen Leben nicht so klar umrissen waren wie in Büchern oder Filmen. Im wahren Leben richteten Menschen scheinbar grundlos Schreckliches an.

Jodie kehrte mit Kaffee und Schinken-und K?se-Sandwiches zurück.

Earl strahlte, als sei seine Flamme ins Zimmer getreten. ?Vielen Dank, meine Liebe. Sie sind zu gut zu einem alten T?lpel wie mir, und wir kennen uns noch kaum.?

?Ich habe eine Schw?che für T?lpel?, entgegnete sie l?chelnd, ehe sie eine meiner Locken um den Zeigefinger wickelte. ?Fragen Sie mal meinen Mann.?

Nachdem Earl ein paar Schnappschüsse von mir gemacht hatte, die den Artikel begleiten sollten, drückte er Jodie v?terlich mit einem Arm. Dann begleitete ich ihn zur Tür.

?Ich sage Ihnen Bescheid, wenn wir das Interview abdrucken.? Er zog seine Sheriff-Jacke an und trat auf die Veranda. Hinter der Gruppe L?rchen war der Himmel gesprenkelt, die Farbe stimmte mich sofort und aus unerfindlichem Grund melancholisch. ?Und nochmals vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben.?

?Nicht der Rede wert.?

?Das noch.? Als Earl eine meiner H?nde nahm, kratzen seine rauen Finger wie Stachelfrüchte auf meiner Haut. Er lie? los, da hielt ich ein gefaltetes Blatt Papier fest. ?Wenn Ihnen eine unordentliche Junggesellenwohnung und abgestandenes Bier nichts ausmachen, schauen Sie einfach mal vorbei, und ich zeige Ihnen ein paar Dinge, die Sie interessieren k?nnten.? Er zog den Rei?verschluss seiner Jacke zu und vergrub die H?nde in den Taschen. ?Ich kenne das Gefühl, nachts kein Auge zuzumachen, weil die Gedanken unaufh?rlich kreisen.?

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