Die Treppe im See(48)
An manchen Abenden im Sommer, wenn Vater wenig zu tun hatte und etwas mit uns unternehmen konnte, schlugen wir gemeinsam mit ihm hinter dem Haus ein Lager auf, nachdem Mutter zu Bett gegangen war, lauschten den Nachtschwalben und blickten den Silbermond an, der durch das geschmeidige Ge?st der B?ume strahlte.
Vater rauchte braune Zigarillos, die nach Bourbon rochen, und wenn wir ihn lange genug anbettelten, lie? er sich dazu herab, die haarstr?ubendsten Spukgeschichten zu erz?hlen, die ich je geh?rt habe, sogar bis zum heutigen Tag. Geister, sagte er, bev?lkerten die W?lder und Wasserwege der Region, weshalb viele H?user, Gastst?tten und Absteigen in unserem geschichtstr?chtigen Bezirk verwunschen seien. Wir erfuhren von Ellicott City, einer alten Stadt mit Mühle in Howard County auf sieben ausladenden, schwarzen Hügeln, wo an einem bewaldeten Hang weit oberhalb der Bahnschienen eine l?ngst verlassene, ausgebrannte Nervenheilanstalt stand. Er beschrieb uns den Wendigo so eindrücklich, dass wir angespannt horchten, ob das Wesen nicht irgendwo in der N?he atmete. Zudem machte er uns weis, ein kleines M?dchen habe aus reiner Gedankenkraft wie in einem M?rchen einen Knaben erschaffen, der heute hoch oben in den W?ldern im Norden lebe, wo er sich von Kleintieren und bisweilen auch jungen Menschen ern?hre.
Kyle ?ngstigte sich stets dabei, Adam wurde stets langweilig, ich hingegen bekam nie genug von diesen Geschichten und h?tte zuh?ren k?nnen, bis die Sonne wieder über dem Fluss aufging. Nachdem wir alle zu Bett gegangen waren, versuchte ich, Kyle weiter Angst zu machen, indem ich mir eigene Geschichten ausdachte, bis Vaters Kopf als dunkler Fleck in der Tür auftauchte und uns zum Schlafen anhielt.
Dies sind ausnahmslos sch?ne Erinnerungen. K?nnte ich sie blo? einpacken und in einem in Blei gefassten Tresor tief in meinem Hirn hinterlegen, um sie vor ?u?erer Beeintr?chtigung zu bewahren. Und w?hrend ich daran dachte, diese Erinnerungen für immer in mir zu behalten, überschatteten die Ereignisse sp?ter in jenem Sommer alles andere, korrumpieren seine Sch?nheit und fransten sie aus wie Flammen, die an Kanten von Fotos züngeln.
Selbst jetzt, zwanzig Jahre sp?ter, wei? ich nicht mehr, wie es in jenem Sommer begonnen hatte. Wer war überhaupt zuerst auf den doppelten Steg gesto?en? Adam oder einer seiner langhaarigen, pickligen Freunde? Vielleicht hatten sie durch Klassenkameraden etwas darüber erfahren. So oder so wurde der doppelte Steg entdeckt, und man h?tte glauben k?nnen, dass wir eine Schatztruhe aus dem Sand geborgen h?tten.
Wie ich bereits beschrieben habe, war der Doppelsteg genau dies: ein Anglerpier mit einem identischen Gebilde obendrauf, das mit seinen moosbewachsenen Brettern als Dach des eigentlichen Gehweges fungierte und zudem mit einem Flaschenzug inklusive Winde ausgestattet war. Sp?ter erkl?rte uns einer von Adams Bekannten, dessen Vater ein F?hrmann der Küste war, dass der Doppelsteg dazu diente, Boote aus dem Wasser zu hieven, nachdem man sie winterfest gemacht hatte, damit das Fiberglas der Rumpfkonstruktion vom Eis unbescholten blieb. So stimmig das auch klingen mochte, so egal war uns der praktische Nutzen des Stegs: eine erh?hte Plattform, von der wir, wenn es dunkel war, blindlings ins Schwarze sprangen, nicht wissend, wo unten und oben war, ohne Gewissheit, dass wirklich Wasser da war, bis wir die Oberfl?che durchbrachen. Nervenkitzel.
Erst nach Kyles Tod erfuhren wir, wem der Steg geh?rte – einem grauhaarigen alten Fischer in Gummihosen und Overall, mit einer Haut ledrig wie ein Football und dessen Augen sich in einem chronischen Zucken verengten –, durch das Wohnzimmerfenster konnte ich beobachten, wie Vater
von ihm auf der Stra?e angesprochen wurde. Er sprach sein Beileid aus und tastete – zumindest nehme ich das rückblickend an – meinen alten Herrn auf eine etwaige Klage ab. Zu einer Klage kam es allerdings nie.
Zuvor war ich dem Besitzer nur einmal begegnet, als Adam, seine Freunde und ich eines Nachts etwas zu laut waren – laut genug, um den alten Vogel aus seinem vermutlich dem Alkohol geschuldeten Tiefschlaf aus dem Sofa zu rei?en. Er stürmte mit etwas, das wie ein Besenstiel aussah, aus dem Haus. Ein paar von Adams Freunden nahmen durchs Dickicht entlang am Ufer Rei?aus, und ein einzelner schaffte es sogar auf die andere Seite, was keine geringe Leistung darstellte. Adam und ich schwammen unter den Pier, wo wir den Atem anhielten.
Ich erinnere mich noch genau an die Trittger?usche, die der Mann auf den Brettern verursachte, w?hrend er brüllte: ?Ihr Kinder, wer immer ihr auch seid, ich knall euch ab, wenn ihr euch noch einmal hier blicken lasst!?
Unsere K?pfe bewegten sich unter dem Steg auf und nieder wie die von Seehunden und wir taten uns schwer, das Lachen zu verkneifen.
Eine Sekunde sp?ter knallte es laut über unseren K?pfen und echote wie Donnerhall über den Fluss. Dann kehrte der Alte zu seinem Haus zurück, gewiss, um sich mit dem Stiel an der Schulter, der keiner war, sondern tats?chlich eine Waffe, im Schatten der Weiden auf die Lauer zu legen.
Danach schien keiner von Adams Freunden je wieder sein Leben für den Dreisekunden-Kick aufs Spiel setzen zu wollen, den uns das Springen vom Steg verschafft hatte.
?Feiglinge?, fluchte Adam, nachdem ich ihn andauernd mit der gleichen Frage l?cherte, weshalb wir über eine Woche nicht mehr nachts aus dem Haus geschlichen waren. ?Ein Haufen feiger Hühner. Willst du hingehen??
Mich hatte dieses Erlebnis genauso verschreckt wie Adams Freunde, dass mein ?lterer Bruder mich jedoch als Feigling oder feiges Huhn bezichtigte, wollte ich verhindern. Also sagte ich, ich wolle wieder hin. Natürlich sagte ich das. Natürlich.
?Ich auch?, meinte Kyle, der uns vom Flur aus belauscht hatte.
Adam und ich waren in Adams Zimmer und wir drehten uns gleichzeitig um und schauten unseren kleinen Bruder an.