Die Treppe im See(44)



Ich schaute zur Terrassentür hinaus, wo die gefrorene Oberfl?che des Sees zwischen den kahlen Zweigen der B?ume schimmerte. An der Wand neben der Scheibe hing eine gro?e Kanadagans, die die Schwingen ausgebreitet hatte und so aussah, als fliege sie aus dem Holzschild, an dem sie befestigt war.

Ira dachte wohl, dass ich die Gans bewunderte, weil er fragte: ?Gehen Sie jagen??

?Nicht wirklich.? Dabei dachte ich an die toten V?gel, die ich im vergangenen Monat in dem Schuhkarton entdeckt hatte.

?Die erlegte ich im vorletzten Sommer an der Ostküste?, bemerkte er, indem er die Gans über die Schulter hinweg ansah. Sie starrte unbeeindruckt zurück. ?Als kleiner Junge ging ich st?ndig mit meinem Vater zur Jagd. Heute komme ich kaum noch raus. Die Gicht, sie verstehen? Nehme mir aber vor, wenigstens einmal in der Saison loszuziehen.? Er be?ugte sein Glas. ?Ein guter Tropfen.?

Es war ein billiger Tafelwein und deshalb vermutlich weit weniger erlesen als das, was er gew?hnlich zu sich nahm, aber nach dieser Bemerkung sah ich mich in dem, was ich vermutet hatte, best?tigt: Ira Stein war Alkoholiker.

?Ich gebe zu, mit einem Hintergedanken hergekommen zu sein?, gestand ich, nachdem Ira uns wieder eingegossen und das Vinyl gewechselt hatte.

?Der w?re??

?Ich schreibe gerade ein Buch über verschiedene Kleinst?dte, insbesondere von Westlake.? Mit der Tür ins Haus fallen und direkt auf die Dentmans zu sprechen kommen wollte ich nicht, also versuchte ich diesen Umweg. Vielleicht gelang es mir, das Thema auf diese Weise zur Sprache zu bringen, ohne allzu offensichtlichen übereifer durchblicken zu lassen. ?Soweit ich wei?, leben Sie und Nancy schon viele Jahre hier.?

?Fast fünfundzwanzig Jahre, ja. Wir waren eines der ersten Paare im Ort. Wir zogen aus Pennsylvania her, nachdem ich einen Posten an der Universit?t erhalten hatte. Englische Literatur.? Ira verwies mit einer Armbewegung auf die Feuerstelle und die Schr?nke daneben. ?Ich wei? noch, dass es in der Stra?e nur zwei H?user gab und alles au?er der Hauptstra?e aus Wald bestand.?

?Dann waren das wohl Ihr Haus und das der Dentmans?? Es war eine logische Schlussfolgerung: Alle weiteren Anwesen befanden sich auf der anderen Stra?enseite und glichen wie eine Tortenecke der anderen. Nur unser Haus und das der Steins besa?en eine eigenst?ndige Architektur.

?Damals verstand man noch das Handwerk und baute solide H?user. Nicht so wie diese Kartenh?user heutzutage.? Er senkte die Stimme und schaute mich an wie einen Komplizen, mit dem er einen Bankraub plante. ?Zwischen meinem und Ihrem Grundstück erstreckt sich eine gr??ere Fl?che, als alle anderen Bewohner dieser Stra?e zusammen besitzen. Haben Sie sich das schon genauer angesehen? Sie sind dort zusammengepfercht, um Himmels willen! Sie k?nnen dort nicht mal schei?en gehen, ohne dass der Nachbar am Gestank erstickt.?

?Ira?, schalt Nancy, die wieder hinter uns aufgetaucht war. ?Himmel.? Sie schüttelte den Kopf, bis sie in die Küche ging, was ich anhand klappernder T?pfe und Pfannen vermutete.

?Es stimmt aber?, schloss er. Sein Ton klang wieder gefestigt. Dann wurde er noch lauter. ?Nan? Kannst du uns das Album bringen? Nan!?

?Du brauchst nicht gleich zu brüllen?, rief sie zurück. ?Was gibt‘s denn??

?Der junge Mann will etwas über die Geschichte der Stadt wissen. Wo ist das Album??

?Wirklich?, begann ich. ?Das ist jetzt nicht n?tig.?

?Liegt im Hocker?, antwortete Nancy.

?Dann mal los.? Ira erhob sich und ging hinüber, wo sich das wei?e Bündel gen?tigt sah, seinen possierlichen Leib aus dem Weg zu hieven. ?Auf, auf!?, rief Ira dem Hund zu und klatschte in die H?nde.

?Schrei den Hund nicht an.?

?Auf!?

Entrüstet beziehungsweise rührseliger, als ich es von einem Hündchen erwartet h?tte, schaute der Malteser Ira Stein an und sprang auf den Teppich. Vor dem Feuer kauerte es sich zusammen.

Ira klappte den Sitz auf und wühlte im Inneren herum, bevor er ein Fotoalbum mit Kunststoffeinband herauszog, das er mir ohne Aufhebens in den Scho? warf, bevor er sich wieder niederlie?.

?Was ist das??, fragte ich beim Aufschlagen. Die Zwischenfolien hafteten an den Seiten.

?Alte Bilder aus der Zeit kurz nach unserem Einzug.?

Ich bl?tterte darin und musste Interesse vort?uschen, denn viele der Fotos waren nicht in Westlake geschossen worden, sondern zeigten Ira und Nancy in jungen Jahren neben einer Reihe v?llig Fremder, bei denen es sich um Freunde oder Verwandte handeln musste.

?Wir k?nnen uns aber nach all den Bauma?nahmen immer noch glücklich sch?tzen?, erkl?rte Ira. ?Die Gegend ist nicht sonderlich dicht besiedelt; mir ist es recht.? Dann verzog er das Gesicht. ?Was um alles in der Welt hat Sie dazu bewogen, ein Buch über Westlake zu schreiben??

?Sch?tze, die Geheimnisse hier faszinieren mich.?

?Welche Geheimnisse w?ren das??

?Welche auch immer es gibt.? Ich beugte mich in dem Fauteuil nach vorne, wobei das Album auf einem Knie ruhte und das Weinglas zwischen meinen Oberschenkeln klemmte. ?Wie gut kannten Sie die Dentmans??

?Nur flüchtig.?

?Wann zogen sie her??

?Das wei? nur der Allm?chtige.? Er trank leer, stand schwungvoll auf und ging wieder hinüber zum Getr?nkeschrank. ?Sie lebten schon lange Zeit vor uns hier.?

?Also waren die Dentmans die erste Familie hier??

?Liegt an der Definition von Familie. Es war nur ein alter Mann mit seiner Tochter. Bernard hie? er. Sein Sohn – er war ein wenig ?lter als das M?dchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn damals – ging st?ndig ein und aus. Als Nan und ich herkamen, dürfte seine Schwester h?chstens dreizehn gewesen sein.?

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