Die Treppe im See(42)
Die Geschichte, die sich in meinen Aufzeichnungen herauskristallisierte, beschrieb einen gebeutelten Jungen, der von seiner geistesgest?rten Mutter sowie einem Onkel, der sich am Qu?len seines Neffen erfreute, in einem Kellerverschlag gefangen gehalten wurde. Irgendwann ist der Junge alt genug, um seine Meinung auszusprechen, weshalb sich sein Onkel – mein David-Dentman-Charakter, um Kontinuit?t zu wahren, hatte ich ihn ebenfalls so genannt – zum Handeln gezwungen sah. So brachte er den Jungen um und lie? es wie einen Unfall aussehen. Bis dorthin hatte ich es ausgearbeitet, drei Notizbl?cke voll mit meinem manischen Gekritzel, doch inwieweit ich damit ins Schwarze traf, wusste ich nicht sicher …
Das Telefon klingelte. Die Stimme am anderen Ende klang so alt und kratzig, wie ein verwitterter Kartoffelsack aussah. ?Bin ich richtig bei Travis Glasgow??
?Ja. Wer spricht denn??
?Nun Mr. Glasgow, mein Name lautet Earl Parsons, und ich sch?tze, Sie k?nnen mich als Westlakes Antwort auf die Watergate Reporter Woodward und Bernstein bezeichnen. Ich erhielt einen Anruf von Sheila Brookner – einen Hinweis, wenn Sie so wollen – und erfuhr, dass eine echte Berühmtheit unter uns weilt.?
?Sheila Brookner??, wiederholte ich unverst?ndig. Dann fiel es mir ein: ?Oh.? Sie war die Bibliothekarin, die mir das Zeitungsarchiv gezeigt hatte. Einen verrückten Moment lang dachte ich, der Kerl wolle mich des herausgerissenen Artikels wegen belangen.
?Sie meinte, Sie h?tten die Bibliothek aufgesucht, um für ein neues Buch oder so etwas in der Art zu recherchieren.?
?Hmmm, so etwas in der Art.? Ich lie? mir seinen Vergleich mit Woodward und Bernstein durch den Kopf gehen, ehe ich schlussfolgerte: ?Sie sind Journalist.?
Earl Parsons lachte wie ein alter Traktor, den man bei K?lte auf Hochtouren zu bringen versucht. ?Ach, Sie machen mich richtig verlegen, wenn Sie das behaupten. Ich bin eigentlich ein pensionierter Arbeiter einer Mühle und freier Mitarbeiter für The Muledeer, wo ich eine Menge zu tun habe und immer wieder feststelle, wie klein unsere Stadt doch ist. Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich muss zugeben, dass meine Kollegen gr??tenteils Studenten der Journalistik vom College sind.?
?Was kann ich für Sie tun??
?Eine Bekanntheit wie Sie schl?gt ihre Zelte nicht alle Tage in Westlake auf.? Er gackerte erneut. ?Eigentlich überhaupt nicht.?
?Bekanntheit ist etwas übertrieben, finde ich. Ich habe nur ein paar Horrorromane verfasst.?
?Von denen ich einen gerade lese?, erwiderte Earl, vielleicht um mich zu beeindrucken, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass er log. ?Schauriges Zeug, das steht fest.?
?Ja, sie sind gruselig?, entgegnete ich.
?Ich habe vor, eine nette Story fürs Feuilleton über Sie zu schreiben, falls Sie es erlauben. Dass Sie hergezogen sind, ist vermutlich die aufregendste Nachricht seit Dolly Murphys Sieg beim Kuchenesswettbewerb im vergangenen Herbst.?
Ich dachte an Elijah Dentmans Tod im See hinter meinem Haus, der definitiv aufsehenerregender war, verkniff mir aber, Earl darauf hinzuweisen.
?Ich muss betonen, dass ich Ihnen nicht auf die Nerven fallen m?chte?, fuhr er fort. ?Falls Sie Zeit haben – und das Wetter h?lt –, würde ich mich gern zum Interview mit Ihnen treffen.?
Ich wollte zusagen, als ich einer Bewegung im Wohnzimmer gewahr wurde. Wissend, dass es mitten im Winter kein offenes Fenster im Haus gab … bl?hten sich die Gardinen wie bei Durchzug. Ich spürte einen Klo? im Hals und konnte mehrere Sekunden lang keinen Satz formulieren.
?Natürlich nur?, Earl kam mir zuvor, zweifellos weil er mein Schweigen als Missbilligung auffasste, ?wenn es nicht allzu viele Umst?nde bereitet.?
?Ach was?, brachte ich schlie?lich hervor. Die W?rter kamen als Pieplaut hervor, aber ich glaubte nicht, dass Earl es bemerkt hatte. ?Geht schon klar. Ich fühle mich geschmeichelt.?
?Was halten Sie von morgen??
?Kommt mir gelegen.?
?Ich arbeite nicht von zu Hause aus, also müssen sie zu –?
?Kommen Sie einfach bei mir vorbei?, bot ich an, w?hrend ich die Gardinen im Auge behielt. Sie waren halb durchsichtig und das Tageslicht auf der anderen Seite zu einem melancholischen Nimbus abgestumpft. Hinter dem Stoff erkannte ich ohne Zweifel die Umrisse eines kleinen Kindes, eine ?therische Gestalt zwischen Scheibe und Gardine, die wie ein Totenschleier über ihm hing.
Er, dachte ich. Elijah Dentman.
?Wie klingt Mittag für Sie?? Earls Stimme klang, als t?ne sie vom Mond her.
?Prima.?
?Hey! Fantastisch! Dann sehen wir uns, Mr. Glasgow.?
?Bis dann?, murmelte ich und legte auf.
Meine Handinnenfl?chen waren schmierig vom Schwei?, und immer noch hatte ich diesen widerlichen Geschmack im Mund. Langsam legte ich den Weg von der Küche ins Wohnzimmer zurück. Mit jedem Schritt nahm das Kind, das ich für Elijah Dentman oder seine wie auch immer gearteten überreste auf dieser Welt hielt, die Gestalt der Stechpalmen vor dem Haus an. Diese schlugen im Wind gegen die Fenster, deren Vorh?nge ich, als ich davorstand, nicht mehr aufziehen musste, um genau zu wissen, dass ich die Zweige für den Geist eines verstorbenen Kindes gehalten hatte. Das Kratzen der gezackten Bl?tter am Glas klang wie Z?hneknirschen.
Ich bückte mich, um die Hand über den Heizungsschlitz am Boden unter den Gardinen zu halten, unterbrach damit den Aussto? kalter Luft von unten, und der Stoff kam zur Ruhe. Einen Augenblick lang hielt ich den Atem an, dann raschelte es empfindlich laut hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sich die Seiten meines Notizblocks wellten und flatterten, ohne umzuschlagen, jedoch sah es so aus, als ob nicht viel dazu fehlte.