Die Treppe im See(45)



?Was geschah mit der Mutter der Kinder??

Ira kehrte zu seinem Sessel zurück. Er nahm Platz, gleichzeitig schnaufte er schwerf?llig, als koste es ihn all seine Kraft. ?Habe nie etwas von ihr geh?rt.?

?Wie war Bernard Dentman so als Mensch??

?Er galt als Einsiedler. Er lebte in dem Haus, bis er letztes Jahr starb. Ich glaube nicht, dass ich ihn in all den Jahren h?ufiger als ein Dutzend Mal drau?en gesehen habe, oder, Nancy??

Als ich mich umdrehte, stand seine Frau in der Tür. Sie hielt eine dampfende Tasse in den H?nden. Sie wirkte unendlich gelangweilt. ?Meine Mutter h?tte ihn als geplagte Seele bezeichnet?, erkl?rte sie, und beim Nachklang dieses Ausdruckes wurde mir leicht kribbelig.

?Was hielten Sie von den Kindern??, stocherte ich weiter. ?David und Veronica??

Falls es Ira überraschte, dass ich die Namen der beiden kannte, zeigte er es nicht. ?Wie gesagt, der Junge kam und ging. Vielleicht zur Schule au?erhalb der Stadt.?

?Oder er steckte regelm??ig in Schwierigkeiten?, fügte Nancy hinzu.

Ira zuckte nach kurzem Z?gern mit den Achseln, was darauf schlie?en lie?, dass er seiner Frau nicht g?nzlich widersprach.

?Und das M?dchen??

?Ein seltsames Kind?, befand Nancy. Ihre Stimme klang wie eine verstimmte Geige, weshalb ich G?nsehaut bekam, sobald sie sie erhob. ?Bleich wie ein Geist. Sie verlie? das Haus selten, wenn sie nicht gerade die Schule besuchte, doch selbst das ging irgendwann vorüber. Es hie?, sie wurde dort arg geh?nselt.?

?Demnach sind die Kinder ausgezogen, als sie alt genug waren?, fasste ich zusammen, um die beiden weiter gespr?chig zu halten.

?Na ja?, schr?nkte Nancy mit einer Hand an ihrer Kehle ein. ?Der Sohn kam nach einer Weile wieder zurück. Wei?t du noch, Ira? Er blieb im Haus und half seinem Vater, wie ich glaube, mit der Erziehung des M?dchens.?

?Und danach??, hakte ich gleich nach.

?Verschwanden sie?, übernahm Ira. Zum dritten Mal stand er auf, um sein Glas aufzufüllen, obwohl es nicht einmal leer war. Hinter mir schnalzte Nancy absch?tzig. ?Ich hatte die Kinder ganz vergessen, aber letztes Jahr, als der alte Mann krank wurde, kreuzten sie wieder auf.?

?Im Januar?, berichtigte Nancy. ?Also ist es schon zwei Jahre her.?

Ira winkte ab, ohne sie anzuschauen. Dann trat er mit frischem Wein im Glas und dem Rest in der Flasche vor den Kamin. Nachdem er mir eingeschenkt hatte, stellte er die fast leere Flasche auf einen antiken Beistelltisch zwischen den beiden Sitzgelegenheiten.

?Sie waren kaum wiederzuerkennen?, sprach er weiter. ?Das M?dchen hatte mittlerweile natürlich ihren eigenen Sohn im Schlepptau.?

?Elijah Dentman?, h?rte ich mich selbst wie im Gebet murmeln. Verlegen stellte ich mein Glas auf den Tisch, bevor ich es mit der Hand zerbrach.

Der Malteser hob seinen struppigen Kopf vom Teppich und jaulte.

?Ei-ei-ei?, turtelte Nancy im l?cherlichen Bariton, dass man meinte, sie sei aus dem Irrenhaus ausgebrochen. ?Ei, mein Kleiner!?

Ira, der zweifellos an solche Ausbrüche gew?hnt war, schien es kaum zu bemerken. ?Als der alte Mann starb, erwartete ich, dass die beiden Verbliebenen auch bald wieder verschwanden. Haus verkaufen, Geld machen. Sie blieben. Vermutlich w?ren sie noch immer hier, w?re das Kind nicht …?

?Sei lieb?, unterbrach Nancy, wobei ich unsicher war, ob sie ihren Mann oder den Hund meinte.

?Irgendetwas stimmte mit dem Jungen nicht?, behauptete Ira. ?Sie schickten ihn nicht zur Schule, sondern lie?en eine Frau kommen, die ihm zu Hause Unterricht erteilte, doch das w?hrte nicht sonderlich lange.?

?Althea Coulter?, gab Nancy an. ?Sie wohnte drüben in Frostburg. Ich erinnere mich an sie. Wir wechselten das eine oder andere Wort, wenn wir uns drau?en über den Weg liefen.?

?Haben Sie sich auch über die Dentmans unterhalten??

Ira runzelte die Stirn und übernahm für seine Frau. ?Was h?tte Althea schon berichten k?nnen??

?Wei? ich nicht. Wenn die Familie wirklich so seltsam war, wie viele hier glauben, konnte sie bestimmt einiges vom Alltag im Haus erz?hlen. Ein paar eigentümliche Anekdoten, vielleicht??

?Nun ja?, sagte Ira. ?Ich h?tte sie nie danach gefragt, und Nancy gewiss auch nicht.?

?Sie war eine anst?ndige Frau?, meinte Nancy. Sie hob die hei?e Tasse an. Ihre Worte klangen, als sei Althea Coulter schon tot.

?Das w?re unprofessionell gewesen?, fuhr Ira fort, als h?tte seine Gattin nichts gesagt. Er rückte dichter zu mir, jetzt fiel mir die feuchte Trübe seiner Augen hinter den Brillengl?sern besonders deutlich auf. ?An jenem Tag h?tte jemand am See auf ihn achtgeben müssen.?

Die Unterhaltung führte uns zu den Umst?nden von Elijahs Tod. Ich verspürte ein gewisses Hochgefühl – ein Empfinden, für das ich mich sp?ter verachten sollte, sobald ich Zeit fand, das Gespr?ch im Geiste zu rekapitulieren.

?Was genau geschah an dem Tag??, wollte ich wissen. Mit dieser Frage kam es mir vor, als feure ich eine Leuchtrakete in den Nachthimmel.

?Niemand passte auf den Jungen auf?, erwiderte Ira schlicht.

?Er spielte dort drau?en auf dieser verfluchten Treppe, schlug sich den Sch?del an, als er abrutschte, und ertrank.?

?Haben Sie beide etwas geh?rt oder gesehen?? Da ich die Zeitungen durchst?bert hatte, wusste ich die Antwort natürlich bereits. Dennoch ich hielt es für den logischsten Anschluss, zumal ich ihren Redefluss auf diese Weise f?rderte.

?Nancy h?rte ihn schreien.?

?Ich h?rte jemanden schreien?, korrigierte sie.

Ich fragte sie, was sie damit meinte.

?Es war sp?ter Nachmittag. Es war etwas kühler, also hatten wir die Fenster ge?ffnet. Ich war gerade mit der Zubereitung des Abendessens besch?ftigt, als ich dieses schrille … ich wei? nicht … ein hocht?nendes Heulen h?rte.?

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