Die Treppe im See(47)
?Wer wei???, sagte Ira. ?Erkl?ren Sie es mir.?
?Das ist ein morbides Gespr?ch?, bemerkte Nancy im Umdrehen. Sie eilte in die Küche, wobei ich glaubte, sie schluchzen zu h?ren, sobald sie au?er Sicht war.
?Was hat all dies überhaupt mit der Geschichte von Westlake zu tun?? Offenbar hatte Ira zu wenig Wein getrunken, um den seltsamen Verlauf unseres Gespr?chs nicht zu hinterfragen.
Wie um mir keine Bl??e zu geben, widmete ich mich wieder dem Fotoalbum und sah einige Seiten durch. ?Wir haben uns wohl ein bisschen verrannt – sind vom Thema abgeschweift, nicht wahr??
Ira stand auf, um eine andere Platte aufzulegen.
Ich bl?tterte weiter, ohne wirklich auf die Motive zu achten. Es bereitete mir Schwierigkeiten, alles zu verdauen, was mir gerade unterbreitet worden war. Stimmte es tats?chlich? Hatte Elijah den toten Hund der Steins ausgebuddelt, und falls ja – zu welchem Zweck?
Mit welchen Motiven darfst du bei einem verst?rten kleinen Jungen rechnen?, fragte die Stimme des Therapeuten in mir. Erneut fielen mir die Küken ein, die ich in einer Mischung aus Wut und Verwirrung nach Kyles Tod zerquetscht hatte. Die Welt konnte ein gemeiner, verletzender Ort sein.
Ira w?hlte Billie Holiday und schwankte eine Weile betrunken zur Musik vor dem Plattenspieler.
Beim Umbl?ttern hielt ich inne. Ich hatte nicht bewusst hingesehen, sondern nur zuf?llig den passenden Augenblick eingefangen. Es war das richtige Foto. Das eigentlich undenkbare Foto. Ich fing so heftig zu schwitzen an, dass ich befürchtete, Flecke auf dem Ohrensessel zu hinterlassen.
?Was ist das??, brachte ich heraus, wobei ich sehr deutlich wahrnahm, wie die W?rter geradezu an meinem Gaumen klebenblieben.
Ira kam zu mir und schaute über meine Schulter. ?Das ist die Treppe, bevor der heftige Sturm sie aus der Erde riss und mitten in den See schleuderte. Sie war ein alter Anglersteg – hatte ich davon nichts erz?hlt? Zum gr??ten Teil liegt er ja unter Wasser. Für Kinder zu gef?hrlich, um ihn zum Springen zu benutzen.?
Mein Herz schlug so heftig, dass ich auf Iras Frage wartete, was denn hier so h?mmerte. Eine einzelne Schwei?perle tropfte von meiner Stirn auf das Foto, so laut, dass ich h?tte schw?ren k?nnen es geh?rt zu haben: Platsch!
Auf dem Foto sah man einen Doppelsteg, eine Replik, wie jene aus meiner Kindheit. Derjenigen, die mir zwanzig Jahre zuvor an dem Mord meines Bruders behilflich war.
Kapitel 19
Im Sommer meines dreizehnten Lebensjahres war ich besonders aufst?ndisch. Viel davon lag vor allem an meiner inneren Unruhe, die bereits im Schuljahr davor begonnen hatte, als mir der Unterricht sterbenslangweilig wurde, weshalb ich meine Gedanken immer weiter schweifen lie?. Ich kritzelte obsz?ne, pornografisch ?hnliche Motive an die Seitenr?nder meiner Schulbücher und ersann groteske M?rchen über Zombies und Werw?lfe statt ordentlicher Aufs?tze. Dafür, dass ich einem Vertretungslehrer ein paar Klugschei?er-Antworten gegeben hatte, musste ich eine Woche nachsitzen, und einmal flutete ich, nachdem mich Freunde dazu angestiftet hatten, die Jungentoilette, indem ich die Urinale mit Klopapier verstopfte und die Spülungen mit Industriegummib?ndern fixierte.
Es war mein letztes Jahr, bevor ich wie Adam zur High School gehen sollte. Dass ich so rebellisch war, rührte in erster Linie von dem Wunsch her, mir den Respekt meines Bruders und seiner Freunde zu erarbeiten.
Jener Sommer brachte eine zuvor unerlaubte Freiheit mit sich, denn ich durfte l?nger ausgehen und endlich ohne Erwachsenenbegleitung mit dem Rad über die Zugbrücke in die Innenstadt von Eastport fahren. Diese neuen Freiheiten brachten mir den Luxus, Adam bei seinen Streifzügen um die H?user seiner Freunde zu begleiten, wenngleich er manchmal ungehalten war und mir sagte, ich solle abhauen. Meistens sagte er allerdings nichts.
Wir spielten oft Baseball im Quiet Waters Park und fischten im ?ligen Wasser am Segelhafen gelegentlich nach Krabben, mit Hühnerk?pfen als K?der. Dort schwammen wir auch, obwohl wir es einfacher im Fluss hinter unserem Haus h?tten tun k?nnen, wo Mutter uns dann für gew?hnlich zum Abendessen hineinrief, und die untergehende Sonne fuchsienfarbige Streifen am Horizont zog. Bisweilen lie? sich Kyle auf der Terrasse hinterm Haus blicken und schaute uns über das Dach des Schuppens hinweg zu.
In jenem Sommer wurde er zehn und durfte mit uns zum Fluss kommen, solange Adam versprach, auf ihn achtzugeben. Kyle konnte schwimmen – als Kinder aus einer kleinen Doppelhaush?lfte in Eastport hatten wir alle es bereits früh gelernt –, doch die Str?mung erwies sich manchmal als tückisch, ohne dass man es schnell genug merkte. Obwohl wir niemanden kannten, dem es bisher passiert war, rankten sich zahllose Legenden aus der Gegend um achtlose Jungen und M?dchen, welche die Flut mitgerissen und hinaus in die Bucht gespült hatte.
(Gil Gorman, ein bulliger Schl?gertyp mit roten Haaren, der bei Miss McKenzie in Sozialkunde hockte, brüstete sich mit einem Cousin, der den Wellen zum Opfer gefallen und in den Chesapeake getrieben worden sei. Monate sp?ter erst habe sich der Leichnam des armen Jungen weithin von Fischen abgenagt wieder gezeigt, und zwar – Gil hob diesen Teil immer besonders hervor – am anderen Ufer des Atlantiks vor England. Natürlich hielt ich schon als Junge die Story im Gro?en und Ganzen für Bullshit, doch manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, kam mir Gils vom Schicksal gestrafter Cousin wieder in den Sinn. Ich stellte ihn mir auf hoher See vor, wie sein Kopf gleich einem Korken im tiefschwarzen Wasser des Meeres auf-und abtauchte, zu dem sternenübers?ten Himmel um Hilfe brüllend, weil ihm ein übergro?es, ungesehenes Meeresungetüm die Zehen einzeln abknabberte.)