Die Treppe im See(43)
Ich sprach Elijahs Namen aus und wartete.
Keine Antwort.
Ich spürte einen Umschwung in mir und ich probierte es ein zweites Mal. Lauter diesmal. Ich war verwirrt und hielt mich vorübergehend wieder für einen Jungen von dreizehn oder vierzehn, der mitten in der Nacht konfus im Haus seiner Eltern in Eastport aufwachte. Aber nein, ich befand mich hier in meinem eigenen Heim und war erwachsen. Geister gab es nicht, genauso wenig tote Jungen beziehungsweise einen toten Bruder.
Fünf Minuten sp?ter, nachdem ich ein Paar Arbeitsstiefel und einen Mantel angezogen hatte, schnappte ich mir eine unge?ffnete Flasche Pinot Noir und trottete hinaus in den Schnee. Der Wind wehte bei?end kalt, und es schneite, w?hrend ich den Hügel erklomm, der zum Haus der Steins führte. Hinter den B?umen konnte ich Schwaden pechschwarzen Rauches erkennen, die aus dem Steinkamin aufstiegen, der sich wie ein dünnes Geh?lz im Nordwind neigte. Auf der Veranda klopfte ich mit vom Frost steifer Faust gegen die Tür aus massiver Eiche. Ich bildete mir ein, eine beschwingte Bigband-Musik aus dem Haus zu h?ren.
Hinter dem Fenster links teilten sich die Falten eines Seidenvorhangs und fielen gleich wieder zurück. Kurz darauf ?ffnete Ira Stein die Tür. ?Mr. Glasgow?, grü?te er, zweifellos überrascht, mich auf der Veranda zu sehen. Er trug eine leichte Hose mit Bügelfalten und ein Sweatshirt mit Rei?verschluss, das hellbraun wie S?gemehl war. Sein L?cheln wirkte ein wenig bel?mmert, nicht zuletzt wegen der auffallend dicken Brillengl?ser. ?Kein sonderlich angenehmes Wetter für einen Spaziergang, nicht wahr??
?Als wir einander auf der Weihnachtsparty meines Bruders begegneten, benahm ich mich ein wenig ungeschickt. Ich wollte Ihnen das hier vorbeibringen.? Ich reichte ihm den Wein.
?Oh, vielen Dank. Hoffentlich habe ich an dem Abend nicht irgendetwas aufgewirbelt.?
Oh doch, Freundchen, du hast ja keine Ahnung, h?tte ich gern gesagt. Fast lie? ich mich zu einem manischen Lachen hinrei?en. ?überhaupt nicht. Gut, ich wusste zwar nicht, was mit dem Jungen der Dentmans passiert ist, aber Adam erkl?rte es mir. Ist schon okay. Es ist nichts weiter passiert.?
?Bitte, kommen Sie rein.? Ira trat zur Seite und hielt mir die Tür auf.
Ich stampfte mit den Fü?en auf, schüttelte den Schnee ab und ging hinein. Ira schloss die Tür hinter mir.
Die Einrichtung erinnerte an ein Museum. An den W?nden hingen riesige Lithografien von Geb?uden aus dem alten Rom und mediterranen Grotten, zur See fahrenden Schiffen und zahllosen Szenen aus Landschaften in Europa, die kostspielig in ihren Messingrahmen wirkten. Die ganzen M?bel sahen ausnahmslos neu oder unberührt aus, wie auf Fotos in einem Katalog. Der Orientteppich war dick wie eine Matratze, resistent gegen Abdrücke von Schuhen, wenn man darüber lief. Ich schaute von der hübsch ummauerten Feuerstelle hin zu Bücherregalen hinter Glas, auf denen zahlreiche in Leder gebundene Bücher standen. Ihre Rücken reihten sich makellos aneinander. Es roch nach Mahagoni, gespitzten Bleistiften und erinnerte an den Geruch alter Zigarren wie im Versammlungssaal einer traditionsreichen Bruderschaft.
So sieht es nur bei Leuten aus, die keine Kinder haben, sagte mir eine Stimme aus dem Hinterkopf, die sehr deutlich nach Jodie klang.
?Wow?, sagte ich. ?Sch?n haben Sie es hier.?
Ein wei?er Malteser, der vor dem Kamin auf einem Polsterhocker aus Satin sa?, hob den Kopf und musterte mich mit triefenden schwarzen Augen. Im Hintergrund kratzte und ?chzte ein alter Victor-Victrola-Plattenspieler, als eine Orchesternummer endete und eine andere anfing.
Ira begab sich an einen prachtvoll gefertigten Getr?nkeschrank, neben dem gl?serne Schiebetüren auf die Terrasse hinterm Haus führten. Nachdem er den Pinot ge?ffnet hatte, füllte er zwei Gl?ser mit der blutroten Flüssigkeit. Eines überreichte er mir, dann bot er mir einen Platz auf dem mit Kn?pfen aus Messing bestückten Fauteuil. Er lie? sich mir gegenüber in einem ?hnlichen Sessel vor dem Feuer nieder.
Der Malteser be?ugte mich nach wie vor. Wie ein flauschig wei?er Pascha sah er aus, w?hrend er die Augenbrauen mehrmals hochzog und wieder entspannte.
Nancys Stimme hallte durch den Flur. Sie rief den Namen ihres Gatten.
?Wir sind hier.?
Sie erschien in der Tür, noch genauso fragil, wie ich sie von der Weihnachtsparty her in Erinnerung hatte. über der braunen Cordhose trug sie einen Pullover, der dem ihres Mannes aufs Haar glich. Der Malteser fing zu winseln an, woraufhin sie ihm husch zuraunte, und er solle ein braver kleiner Fauntleroy sein, husch jetzt, husch.
?Du erinnerst dich bestimmt noch an Mr. Glasgow von nebenan, Liebes??
Nancy nickte mir distanziert und ohne L?cheln zu. Ich bemerkte Audubon-Kunstdrucke hinter ihr an der Wand. ?Mr. Glasgow.?
?Bitte?, sagte ich, ?nennen Sie mich Travis.?
?Ich lernte Ihre Frau auf der Weihnachtsparty kennen. Eine reizende Frau.?
?Ja, ist sie, und ich halte sie geh?rig auf Trab.? Natürlich war das ein Witz, doch Nancy schien keinen Sinn für Humor zu besitzen.
?Er hat uns Wein mitgebracht?, lie? Ira sie wissen, was sich so ungew?hnlich leutselig anh?rte, dass ich es auf m?glichen Alkoholismus zurückführte. ?Ich k?nnte dir ein Glas einschenken.?
?Nicht vor dem Abendessen?, sagte sie f?rmlich. ?Ich lasse euch M?nner mal allein.? Damit drehte sie sich um und ging den Flur hinunter.
?Ahhh?, seufzte Ira, mit dem Kopf gegen die Rückenlehne lehnend, w?hrend der Plattenspieler zum n?chsten Stück überging. Ich war mir nicht sicher, aber es klang wie eine Nummer von Duke Ellington. ?Wunderbare Musik, was??