Die Treppe im See(41)



Zuletzt stierte mich David Dentman an, der meinen Kopf mit einer Hand immer wieder seitlich gegen die Treppe im See schlug.

Ich erwachte v?llig verschwitzt und mit rauem Hals. Jodie strich mir mit kühler Hand das Haar von der Stirn. Am Horizont glühte die untergehende Sonne, dass es durchs Schlafzimmerfenster aussah, als stünden die Baumwipfel in Flammen. Ich schaute zum Stra?enrand, wo auf einmal Jodie mit Beth im Schnee schwatzte. Ich verkrampfte innerlich; die kalten Finger lie?en von mir ab, ehe ich schreien konnte.

Tr?ume …

Der n?chste Traum führte mich an eine Burg aus Pappkartons und Bootsstege, die sich zu einer Leiter geradewegs in den Himmel türmten. Schlie?lich heiratete ich eine Frau, die mit einem Monster schwanger war. Ich hie? Alan und lebte mit ihr an einem anderen See irgendwo im Land. Ein imagin?rer Sommer brannte auf meinem Rücken und den Schultern, was mir sehr real vorkam, obwohl ich wusste, dass ich es mir nur zusammenspann. Mein Shirt klebte am Oberk?rper, die Haut verkohlte und zischte vor Hitze. Konfuse Fiebertr?ume.

In einem anderen Traum kroch ich aus dem Bett und schwebte über den Flur. Unten h?rte ich jemanden sprechen, unwirklich nur, wie ein Phantom. Als ich mich über den Treppenabsatz bewegte, hielt ich mich mit beiden H?nden am Gel?nder fest und schaute hinunter. Dort wich ein Schatten an die Wand zurück, also drehte ich mich um und glitt über die Stufen auf die Diele. Die Stimme wurde ein wenig lauter, da wusste ich intuitiv, dass es Jodie war, die da redete.

W?hrend es mich ins Wohnzimmer zurückzog, kam ich mir einmal mehr vor wie im halluzinogenen Wahn, und dies wiederum trotz des Bewusstseins, dass ich tr?umte. Meine Fü?e streiften den Teppich allenthalben, und mein Kopf kam einem Heliumballon gleich. Ein brutaler Wind peitschte im Wohnzimmer und blies die Gardinen durch die ge?ffneten Fenster in den Vorgarten hinaus, wobei ich mich kurz fragte, woher er überhaupt rührte. Von dort, wo ich innehielt, sah ich Jodie von hinten auf dem Sofa sitzen. Ich n?herte mich, lauschte ihrer Worte … und realisierte, dass sie eigentlich nichts sagte, sondern leise und gefühlvoll sang, liebreizend und wohlt?nend. Meine Mutter hatte ?hnliche Weisen getr?llert, als ich noch klein war.

A, du bist liebenswert!

B, du bist so wundersch?n.

C, du bist ein Kind voll Charme!

D, du bist so entzückend.

E, du bist so aufregend!

F, du bist eine Feder in meinen Armen …

Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre Stimme stockte. Dann starrte ich hinab auf ihren Scho? … wo kurz, kurz das Bild eines Jungen aufflackerte, den sie in ihren Armen wiegte, ehe es wieder erlosch.

?Wo ist er hin??, fragte ich.

?Er wird wieder zurückkommen?, sprach Jodie leise und fing wieder zu summen an.

?War er …??

?Ja?, antwortete sie. ?War er.?

?Ich ahnte, es k?nne vielleicht sein.?

Ihr S?useln entspannte.

?Du singst wundersch?n?, sagte ich ihr.

Das brachte sie zum L?cheln. Ich spürte es, ohne es zu sehen.

?Danke.?

?Zu dumm, dass ich blo? tr?ume?, bedauerte ich.

?Nein?, behauptete Jodie. ?Tust du nicht.?





Kapitel 18




Wenn man dem Alltag entflieht, bemerkt man, dass sich die Welt ebenso zurückzieht. Alles, was am Ende übrig bleibt, ist graue Leere. Sie wuchert in einem wie eine Krebszelle, wie eine Probe kranken Gewebes in einer Petrischale. Man schaut in sich hinein und erkennt es, das klaffende, trübe Loch im Kern seiner selbst. Wenn man so starrt, sieht man sich irgendwann selbst zurückstarren.

Ich war du, sagte Jodie. Ist das nicht witzig?

Man ger?t in Vergessenheit, wird von Luft ersetzt, von Molekülen und Partikeln elektrischen Lichts. Man wurde gel?scht, entfernt. Ein Ger?usch, fast wie wenn etwas platzt, begleitet euer Verschwinden, wenn jene Teilchen die Stelle einnehmen, die ihr noch eine Millisekunde zuvor ausgefüllt habt. So decken sie Zeit und Raum ab, radieren jedwede Erinnerung an euer Leben als Mensch aus. Man existiert nicht mehr.

Ist das nicht witzig?

Im Zuge dieser Selbstisolation wird man sich der Tatsache bewusst, dass man nie wirklich da war – nie richtig auf der Welt gewesen ist, denn die Natur kennt kein Aussterben, also bedeutet das Verschwinden, dass man von vornherein nie gelebt hat.

Ins Land der Lebenden kehrte ich an einem Mittwoch zurück. Im Haus herrschte Stille, denn Jodie war am College. Ein weiterer Sturm hatte die Stadt heimgesucht und im Schnee begraben und die Kiefern in der Ferne sahen aus wie wei?e Spitzhüte von Hexen.

Im Haus war es eiskalt, obwohl das Thermostat konstante zwanzig Grad verhie?, aber ich traute ihm l?ngst nicht mehr. Meine Krankheit hatte mir arg zugesetzt und mein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, und der Geschmack auf meiner Zunge entsprach dem des Inhalts eines Aschenbechers, also begab ich mich in die Küche und setzte Kaffee auf.

Nach der zweiten Tasse ging es mir besser. Ich entschloss, den Steins einen Besuch abzustatten, um etwas über die Dentmans zu erfahren. Nach meinem Abstecher zu Veronica und David in West Cumberland am Sonntag war es für mich allzu offensichtlich, dass etwas mit dieser Familie ganz und gar nicht in Ordnung war. Die bizarre Charakterzeichnung der fiktiven Dentmans aus meinen Notizbüchern wurde der Wirklichkeit nicht einmal ann?hernd gerecht. Adam hatte mir alles, was er wusste, über sie erz?hlt, doch das genügte nicht. Als unmittelbare Nachbarn mussten die Steins viel vom Familienleben nebenan aufgeschnappt haben. Ich war begierig darauf, m?glichst alles in Erfahrung zu bringen, sowohl für mein Buch als auch zur Befriedigung meiner wachsenden Neugierde.

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