Die Treppe im See(38)
Aber halt. Ich beugte mich über das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe. Meine Erbitterung lie? sie wohl beschlagen, also machte ich die Lüftung an und wartete ein paar Sekunden, bis mein Atemhauch vom Glas verschwand. Beim ersten Mal hatte ich es nicht bemerkt, doch jetzt sah ich ihn eindeutig, einen unbefestigten Weg mit Spurrillen, den man vom Schnee befreit hatte. Er führte zwischen den Kiefern hindurch den Hügel hinauf.
Ich l?ste die Handbremse wieder und fuhr weiter, wobei die niedrig h?ngenden ?ste gegen die Motorhaube schlugen. Der Wald war so dicht, dass kaum Schnee bis auf den Grund gefallen war. Ich folgte dem Weg bis zum h?chsten Punkt, der sich als weite, flache Lichtung herausstellte.
In der Mitte stand ein Haus, das deutlich ger?umiger war als die auf dem Weg hierher, wenngleich es auch nicht gepflegter aussah. Wie der Rest der Anwesen in West Cumberland sah Veronicas Heimstatt aus, als sei es aus der H?he auf dieses Fleckchen Land voller toter, gefrorener Unkr?uter, viel zu gro?er, unechter Sonnenblumen sowie kaputter Gartenm?bel herabgestürzt. In der N?he der Tür fungierte ein ausgedienter Traktorreifen als Gef?? für einen kahlen Strauch, der wie ein Skelett aussah. An der linken Wand stand eine Pyramide aus Drahtk?figen – Krabbenk?cher und Hasenfallen, in denen immer noch steif gefrorene K?der hingen.
Ich atmete schwer, weshalb die Scheiben erneut beschlugen.
Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, nahm ich den Karton vom Beifahrersitz und stieg aus. Da wurde ich einer Bewegung rechts von mir gewahr und wandte mich erschrocken der einen Seite der Behausung zu. Zu meiner Erleichterung handelte es sich blo? um einen W?scheschirm, der im Wind schwankte. In der Ferne verschaffte sich ein aufgebrachter Hund Geh?r.
Ich trat auf die morsche Terrasse, in der schartige L?cher klafften, wie um mir hungrig die Kn?chel aufzurei?en, und klopfte an den Rahmen des Fliegengitters.
Dann wartete ich … einen endlosen Augenblick lang. Drinnen regte sich nichts, und vor dem Haus parkte au?er mir niemand.
Dann ging die Tür auf, nur das schmutzige Gitter trennte uns. Es war Veronica Dentman – das wusste ich genau –, obwohl sie nicht einmal ann?hernd so aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war klein, be?ngstigend dürr mit gro?en dunklen Augen und schwarzen Haaren. Sie war vielleicht achtunddrei?ig, vierzig allerh?chstens, wirkte aber aufgrund des traurigen Blickes und ihrer abgeh?rmten Züge viel, viel ?lter.
Diese gro?en, umherschweifenden Pupillen bannten mich.
Ich wartete darauf, dass sie die Initiative ergriff, doch sie starrte mich nur an. ?Miss …, ?hm, Veronica Dentman??
Sie zog die Augenbrauen zusammen. ?Wer sind Sie?? Die Worte kamen wie aus der Pistole geschossen, beinahe wie ein einziges. Ich erhaschte einen Blick auf ihre schlechten Z?hne.
?Tut mir wirklich leid, sie zu st?ren, Ma‘am. Mein Name ist Travis Glasgow. Meine Frau und ich sind in Ihr altes Haus in Westlake gezogen.?
?Sie meinen das meines Vaters.? Die Kiste in meinen Armen fiel ihr auf. Dabei verfolgte ich mit, wie ihre Züge milder wurden; sie erkannte, was sich darin befand. Dann fixierte sie wieder mich, ein durchdringendes Schwarz, das sich durch das vom Moos grün gewordene Gitter bohrte.
?Tut mir leid?, wiederholte ich. Etwas anderes wusste ich nicht zu sagen. ?Ich wollte mich nicht aufdr?ngen.?
Veronica drückte das Fliegengitter mehrere Zoll weit auf; das Quietschen der Scharniere klang wie eine Katze, die bei lebendigem Leib verbrannt wurde. ?Sind das die Sachen meines Sohnes??
?Ja, Ma‘am.?
Diese Suchscheinwerfer von Augen musterten mich erneut, sogen jede Nuance meines ?u?eren auf, als wolle Veronica es für eine sp?tere Verwendung katalogisieren. Just als ich mir sicher war, sie werde mich zum Teufel jagen, ?ffnete sie das Gitter weiter und bat mich hinein.
Die Wohnung war zugestellt und entsprechend eng. Am Boden lag ein br?unlicher Zottelteppich, der geradewegs aus den Siebzigern stammen mochte, und die wahllos zusammengewürfelten M?bel wirkten wie sich gegenseitig fremde Menschen, die man gemeinsam in einen Wartesaal gezw?ngt hatte. Die W?nde waren beinahe g?nzlich kahl, die Vorh?nge an den Fenstern aufgezogen. Von der Kochnische her roch ich schwach Kaffee, den sie wohl gerade aufbrühte. Die Lampen sorgten für k?rgliches Licht, die Vert?felung für eine Atmosph?re, bei der ich mich an einen Beichtstuhl in der Kirche erinnert fühlte.
?H?tte nicht gedacht, dass ich Ihre Adresse finde?, bemerkte ich im Versuch, Konversation zu betreiben.
?Wer hat Sie geschickt??
Die Frage erwischte mich kalt, sodass ich ins Stottern geriet. ?Eigentlich, ?h … niemand.?
?Weshalb sind Sie dann hier??
?Um Ihnen das hier zu bringen.? Der Karton wurde immer schwerer in meinen Armen, weshalb ich sein Gewicht unbehaglich von einem auf den anderen verlagerte.
?Stellen Sie es dort ab?, bat sie mit einem Fingerzeig in Richtung eines runden Tisches nicht weit weg von der Haustür, den man wohl einmal zum Kartenspielen verwendet hatte.
Ich stellte die Kiste auf mehrere Briefumschl?ge, die allesamt an David Dentman adressiert waren. Bis zu diesem Zeitpunkt w?re ich nicht darauf gekommen, dass sie wom?glich noch mit ihrem Bruder zusammenlebte.
Ich steckte die H?nde in meine viel zu kleinen Hosentaschen und drehte mich zu Veronica um. Sie sah so ungesund schm?chtig aus, dass man glauben konnte, ihr mausgraues Hauskleid, das sie bestimmt selbst geschneidert hatte, h?nge nach wie vor am W?schehaken. Sie hatte lange, streichholzdünne Arme; unter ihrer Haut zeichneten sich die Adern allzu deutlich blau ab. Als sie glaubte, ich schaue nicht hin, klemmte sie ihre verlotterten Str?hnen hinter die Ohren, und ich sah dabei, dass sie eine lange Narbe hatte. Diese fand ihren Ursprung deutlich über dem Haaransatz, streifte die linke Schl?fe und kr?uselte sich auf der gleichen Seite ums Ohr.