Die Treppe im See(34)
?Wollte dich nicht wecken?, flüsterte ich von der Bettkante aus.
?Hmmm?, summte sie schl?frig. ?Macht nichts. Legst du dich zu mir??
?Noch nicht.?
?Willst du was Witziges h?ren??
?Sicher?, beteuerte ich nach wie vor wispernd.
?Kurz bevor du zurückgekommen bist, war ich auf dem Klo.?
?Hast nicht zu viel versprochen?, entgegnete ich, indem ich ihren Handrücken rieb. ?Ein echter Brüller.?
?Nein?, wandte sie ein. ?H?r zu.?
?Mach ich.?
?Ich ging ins Bad und schaltete das Licht ein. Dabei musste ich blinzeln, du wei?t schon, weil es so hell war und ich schon geschlafen hatte. Kennst du doch, oder??
?Natürlich.?
?Also kniff ich die Augen zusammen, guckte in den Spiegel, und wei?t du was? Ich sah nicht mich, sondern jemand anderen darin.? Ihr Gesicht schien über dem wei?en Gebirge des Kissens zu schweben und wirkte geisterhaft bleich, wie der Mond.
?Wei?t du, wen ich sah??
?Wen??
?Dich?, sprach Jodie. ?Ich war du – nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber ich war du.?
Ich beugte mich nach vorn und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie fühlte sich sehr warm an. ?Du hast das getr?umt?, erkl?rte ich ihr.
?Nein?, widersprach sie. ?Ich war hellwach. Was glaubst du, hat das zu bedeuten??
?Hab keine Ahnung?, gab ich zu und stopfte die Decken fester um sie herum.
Jodie w?lzte sich auf die Seite, wobei ich ein zaghaftes L?cheln auf ihren Lippen bemerkte. ?Ich auch nicht.? Ihre Lider flatterten, ehe sie die Augen wieder schloss. ?Das ist wohl das Sch?ne am Geheimnisvollen.?
Nach dem dritten Kuss ging ich leise in den Flur und schaute nach dem Thermostat. Es zeigte nach wie vor zwanzig Grad an, obwohl es sich im Schlafzimmer wie unter zehn anfühlte. Ich sah sogar den Hauch meines Atems.
?Verdammt, das ist l?cherlich.?
Im Büro gegenüber leuchtete etwas, also steckte ich den Kopf durch den Türspalt und machte die Lampe an. Jodie hatte ihren Tisch an die Wand gestellt. Der Bildschirm darauf strahlte sein amethystfarbenes Licht ab, daneben stand ein altertümlicher Drucker, und Jazz-CDs lagen verteilt auf der Arbeitsfl?che. Die ganze Wand über dem Tisch war mit gerahmten Auszeichnungen tapeziert, Diplomen wie Abschlusszeugnissen und einer Liste der besten Studenten Amerikas neben einer Frau-des-Jahres-Plakette der alten Universit?t, an der sie ihr Grundstudium absolviert hatte. Am Boden stapelten sich Bücher über Psychologie sowie Ordner voller Fotokopien wie Türme einer gerade entstehenden Stadt, Diagramme und Kurven voller Textmarker-Linien. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht sauber gemacht und Jodie damit sich selbst überlassen hatte.
Zitternd ging ich wieder nach unten. Nach all dem ?rger mit der launischen, unzuverl?ssigen Heizung hatte ich mich daran gew?hnt, hinterm Haus Holz zu hacken, mit dem wir den Kamin im Wohnzimmer fast rund um die Uhr am Brennen hielten. Ich schnappte mir ein paar frisch gehauene Kl?tze von der Terrasse und warf sie ins Feuer.
Nach ungef?hr fünf Minuten loderte es beschaulich. Dann nahm ich eine Flasche Chivas aus unserem k?rglich bestückten Spirituosenschrank in der Diele und goss einen Fingerbreit in ein schweres Kognakglas. Mit dem Rücken an der Wand hockte ich dann vorm Feuer und schaute dem Spiel der Flammen zu. Der Whiskey brannte im Hals und strahlte wohlige W?rme bis in meine Zehen aus.
über eine Stunde verbrachte ich vor dem Kamin und sah zu, wie die Glut schw?cher wurde beziehungsweise letztlich erstarb, w?hrend ich die Konversation mit Adam bei Tooey Revue passieren lie?. Ich hatte ihm freimütig gestanden, dass Kyle in London aus meinem Ged?chtnis verschwunden war, und wie miserabel ich mich deshalb fühlte. Das war die Wahrheit. Doch die Rückkehr in die Staaten und unser Einzug in Westlake – in ein altes Haus voller Geflüster, voller Geheimnisse und kalter H?nde, die mir nachts an die Brust fassten – hatten alles wieder aufgewühlt. War die kleine Londoner Wohnung ein sicheres Refugium gewesen, war ich nun bemüht, meinen Kopf frei zu halten. Was mich ?ngstigte, war die Unsicherheit, ob mich tats?chlich nur die Erinnerung an Kyle plagte – oder die M?glichkeit, dass etwas anderes an mir nagte, mich langsam bearbeitete wie ein Steinmetz und schlussendlich niederrang.
Sie hatten Elijah Dentman nie gefunden, und das bedeutete, dass sein Leichnam immer noch dort unten im stillen, schwarzen Wasser war – mit wei?lich aufgebl?hter Haut, an der sich die Fische gütlich taten und die Augen tief in den Sch?del zurückgewichen waren. Geistig vor mir sah ich schwarz gewordene Fingerspitzen, aus denen die Knochen bereits herausragten, und grünes Haar, das wie Seetang auf einem düster leuchtenden Sch?del im Schlick waberte.
Fuck, dachte ich.
Ich stand auf und ging zurück an den Schrank, wo ich den Chivas abstellte, dann wandte ich mich zurück zur Treppe.
Irgendwo im Haus schallte etwas Metallisches. Das Ger?usch hallte wider und klang so, als schlüge jemand mit einem Schraubschlüssel gegen ein starres Eisenrohr.
Auf halbem Weg die Stufen hinauf hielt ich inne. Mein Puls fing zu rasen an.
Es knallte ein zweites Mal, jetzt erschreckend laut und direkt aus einem der Heizungsrohre. Ein Pfeifen wie aus der Ferne schloss sich an, was mich an die Sirene eines nahenden Feuerwehrautos erinnerte. Dann pl?tzlich schwoll der L?rm weiter an, wuchs sich zu einem steten, tiefen Brummen aus.
Ich machte kehrt und ging im Flur auf allen Vieren nieder, um meinen Kopf dicht über einen der Lüftungsschlitze zu halten. Daraus stieg keine W?rme auf, obwohl es gerade so geklungen hatte, als sei die Heizung angesprungen. Dieses befremdliche, fortw?hrende Brummen …