Die Treppe im See(31)



Ich las den Artikel mehrmals durch, ohne richtig schlau daraus zu werden. Sicher, der See war gro?, aber dennoch ein überschaubares Gew?sser. Warum gelang es ihnen nicht den Leichnam zu finden? War das Kind derart schnell verwest und zerfallen? Das ergab keinen Sinn.

?Hier trotzdem etwas Kaffee für Sie.? Sheilas Stimme lie? mich vor Schreck auffahren. Ich war so vertieft, dass ich die Tür überhaupt nicht geh?rt hatte. Sie stellte einen Plastikbecher neben den Zeitungen auf dem Tisch ab. Als sie über meine Schulter lugte, sah sie die Schlagzeile und schüttelte den Kopf, als sei sie bitterlich entt?uscht. ?Oh, ich erinnere mich. Was für eine furchtbare Trag?die.?

?Man hat die Leiche nie gefunden?, bemerkte ich ungl?ubig mit kratziger Stimme.

?Wenn so etwas einem jungen Menschen passiert, ist es umso schlimmer.? Sheila runzelte die Stirn, bevor auch der Rest ihres Gesichts in Falten lag. ?Weshalb interessieren Sie sich für dieses Drama??

?Meine Frau und ich, wir sind neu in der Stadt und h?rten davon.? Ich rang mir ein schwaches L?cheln ab. ?Sch?tze, aus reiner Neugier.?

?Ein junger Mann wie Sie sollte sich nicht mit solch makabren Dingen besch?ftigen, sondern Angeln gehen, Fu?ball spielen und Zeit mit seiner Frau verbringen.?

?Ich schreibe Horrorbücher, verdiene mein Geld mit dem Makabren, Sheila?, gestand ich und nahm den Kaffee, um daran zu nippen.

Sie strahlte wie eine stolze Mutter, weil ich sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. ?Was genau schreiben Sie? Kurzgeschichten??

?Romane.?

?Wirklich? Fantastisch! Wurde irgendetwas auch ver?ffentlicht??

?Alle.? Ich hasste diese Frage schon immer.

?Haben wir sie vielleicht sogar hier in unserer Bibliothek??

?Genau genommen steht eines meiner Bücher dort drüben im Regal. G wie Glasgow.? Ich wollte sie pl?tzlich loswerden, und dies stellte sich wohl als beste M?glichkeit dar.

?Ist das nicht witzig? Glasgow sagten Sie? Wie die schottische Stadt??

?Exakt.?

Sheila grinste so breit, dass ich jeden Moment erwartete, ihr Kopf fiel über dem Oberkiefer ab. ?Wissen Sie, was ich jetzt mache? Ich werde dieses Buch suchen und Sie es signieren lassen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wir stellen einen hübschen Reiter mit den Werken unserer Lokalhelden am Eingang auf.? Sie schlug die H?nde vor der Brust zusammen. ?Toll. Als lebten Prominente in unserer unmittelbaren Umgebung.?

Sheila schlurfte davon, und ich h?ngte den gelben Katalog wieder an den Haken. Ehe ich mich aber auf den Weg machte, gab ich einem unverhofften Drang nach und bl?tterte zurück zum Artikel über Elijah Dentman. Nach einem kurzen Blick über die Schulter riss ich die Seite heraus, faltete sie zusammen und steckte sie in die Ges??tasche meiner Jeans.





Kapitel 13




?Warum zum Teufel hast du mir nicht gesagt, dass sie Elijah Dentmans Leichnam nie geborgen haben??

Adam hatte einen freien Tag, und wir sa?en mit gesundem Durst an der Theke des Tequila Mockingbird. Das Bird, wie es die Stammkunden nannten, war ein schummriger, rustikaler Pub mit ru?igen Backsteinw?nden und verzogenem Holzfu?boden, wie aus den Albtr?umen eines Verrückten. Der zersplitterte Tresen befand sich an einer Wand gegenüber einer Reihe Rundtische, w?hrend eine alte Jukebox neben der Klotür Staub ansetzte. Entbl??te Deckenstreben, durchweg verkohlt und leidlich stabil, erinnerten an Fettbr?nde, die au?er Kontrolle geraten waren. Mit all ihren Geistern und Aromen aus vergangenen Tagen unterschied sich die Bar nicht gro?artig von anderen überall im Land.

Die einzige Ausnahme war eine Wand nicht aus Backsteinen, sondern mit einer riesigen Anzahl von Mahagoni-Regalen, auf denen sich Hunderte – vielleicht Tausende – in Leder gebundene Bücher befanden. Die Rücken waren brüchig, und viele der aufgepr?gten Titel nicht mehr lesbar. Das letzte Brett, die hinterste Nische der die ganze Breite des Raumes einnehmenden Konstruktion, beanspruchten die W?lzer. Einige steckten liegend unter den B?den, wohingegen man andere zwischen zwei B?nde geschoben hatte, und zwar offensichtlich so gewaltsam, dass es nahezu genauso unm?glich war, sie herauszuziehen, wie einen Nagel in einem Baumstamm. Gerahmte Kunstdrucke der Gem?lde aus William Blakes Zyklus Lieder der Unschuld und Erfahrung hingen an den übrigen W?nden, wobei die Farben hinterm Glas derart brillant und gestochen scharf waren, dass sie inmitten dieses düster l?ndlichen Gasthauses v?llig fehl am Platz wirkten.

?Wovon sprichst du??, fragte Adam. ?Ich hab dir alles erz?hlt.?

?Nein. Du sagtest, er sei ertrunken. Du hattest nie erw?hnt, dass man seinen K?rper nie geborgen hat.?

Wie er mit dem Finger am Schaum seines Bieres schnippte, sah er auf einmal gelangweilt aus. ?Okay, gut. Wir haben ihn nicht gefunden.?

?Wie kann das sein? Es handelt sich um ein geschlossenes Gew?sser.?

?Ein sehr gro?es und tiefes obendrein.? Adam seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. ?Niemand konnte bezeugen, dass der Junge wirklich hineingefallen war, also wissen wir auch nicht, auf wann wir seinen offiziellen Tod datieren sollen. Nancy Steins Aussage bezüglich des Ger?usches, das ihr wie ein Schrei vorgekommen war, ist unser einziger Anhaltspunkt. Wir trafen erst über zwei Stunden sp?ter am Ort des Geschehens ein. Wei?t du, was mit einem K?rper geschieht, der so lange unter Wasser bleibt??

?Hey.? Ich hielt die H?nde in einer Geste gespielter Kapitulation hoch. ?Ich kritisiere das nicht.?

Die Augen meines Bruders verengten sich. ?Was treibst du überhaupt die ganze Zeit, dass du auf solche Fragen kommst??

?Ich war in der Bücherei und habe mir ein paar alte Zeitungsartikel angeschaut.?

Ronald Malfi's Books