Die Treppe im See(30)
?Hier entlang.? Ich folgte der Frau, nachdem ich um den Schreibtisch gegangen war, durch ein Labyrinth aus Bücherregalen. ?Gott wei?, warum Vicky darauf besteht, die Tür abzusperren. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, weshalb jemand einbrechen und all unsere Zeitungen stehlen sollte.?
?Was meinten Sie vorher damit, von wegen Stei?bein des Teufels??
?Stei?bein des Teufels?, wiederholte sie. ?Den Ausdruck hat meine Mutter gepr?gt. Er bezieht sich auf mitten im Nirgendwo, also einen Ort wie Westlake.?
?Ich mag die Vorstellung.?
?Oh, verstehen Sie mich nicht falsch?, entgegnete sie. ?Die Stadt ist wirklich wundersch?n.?
Ich meinte eigentlich die Formulierung ihrer Mutter, verkniff mir aber eine weitere Erkl?rung.
Letztlich erreichten wir eine unauff?llige Tür im hinteren Bereich der R?umlichkeiten. An der Tür klebte ein bekanntes Motivationsposter, das Bild einer struppig gelbbraunen Katze. Darunter stand seltsam falsch geschrieben: Hang in Their!
Die Bibliothekarin w?hlte den passenden Schlüssel und sperrte auf, beugte sich hinein und schaltete das Licht an. Der Raum war nicht gr??er als eine Toilette. An einer Wand standen Regale, die unter dem Gewicht gestapelter Zeitungen einzubrechen drohten. Ferner war Platz für einen Tisch mit Stuhl sowie einen gelben Katalog, der an einem Haken am Raugips hing.
?Das ist der Index?, bedeutete die Frau, indem sie mir die Schlüssel überlie?. ?Sie k?nnen auch die Toiletten aufschlie?en. Vicky glaubt wohl, auch dort f?nde jemand etwas zum Stehlen. M?chten Sie Kaffee??
?Nein, danke.?
?Also, melden Sie sich einfach, wenn Sie etwas brauchen. Ich hei?e Sheila.?
?Danke, Sheila.?
Nachdem sie verschwunden war, trat ich ein und machte die Tür zu. Die Luft war abgestanden und stank logischerweise intensiv modrig nach altem Papier. Ich nahm den Katalog vom Haken und fing zu bl?ttern an. Es brauchte eine gute Minute, oder zwei, bis ich das Archivierungssystem durchblickt hatte, doch dann fiel es mir umso leichter, konkrete Daten zu finden.
The Muledeer war eine Wochenzeitung, und keine Ausgabe dicker als die Speisekarte eines Highway-Restaurants. Au?er dass es letzten Sommer passiert war, wusste ich nicht, wann genau Elijah Dentman den Tod gefunden hatte, also begann ich in der ersten Juniwoche und arbeitete mich Seite pro Seite durch. Weil die Artikel sehr knapp gehalten waren, glaubte ich nicht, dass es allzu lange dauern würde, bis ich es fand, zumal etwas so Unerh?rtes wie der Tod eines Jungen aus der Gegend gewiss eine Titelstory abgeworfen hatte.
Alles in allem passierte kaum Aufregendes in Westlake, Maryland. Allt?gliches pr?gte den Inhalt, Berichte von ?rtlichen Talentshows, Werbung für lokale Betriebe und die üblichen Todesanzeigen, wenn ein ?lterer Mitbürger zum auf ewig begleiteten Wohnen in den Himmel entstiegen war. Obwohl die Artikel wenig Wissenswertes vermittelten, gestatteten sie einen erhellenden Einblick in das Herz und der Seele die Kleinstadt, die ich nun meine Heimat nannte.
Endlich fand ich es; die Schlagzeile sprang mich geradezu an:
JUNGE ERTRINKT IM SEE
Eine frostige Woge floss durch meinen K?rper. Dass es der Wirklichkeit entsprach, l?hmte mich. Ich atmete nicht, dessen war ich mir bewusst, konnte allerdings nichts dagegen unternehmen.
Direkt links unter der Zeile war ein Schulfoto von Elijah Dentman abgedruckt. Seine Haut schimmerte so hell wie das Haar. Er hatte ein rundes Gesicht und zusammengekniffene Augen, doch darauf belief sich die ?hnlichkeit zu Kyle. Sein Erscheinungsbild deutete eine gewisse Tr?gheit oder Unterentwicklung an. Der Schnappschuss musste in einem Supermarkt entstanden sein, typisch mit falscher Holzvert?felung im Hintergrund, und wirkte so schlicht wie allt?glich. Trotzdem w?re ich, als ich dem Jungen in die Augen schaute, am liebsten zusammen-und in Tr?nen ausgebrochen.
Laut David Dentman, dem Onkel des Jungen, war er nachmittags zum Schwimmen an den See gegangen und wollte auf dem Treppengestell spielen, w?hrend David ihn vom Wohnzimmerfenster aus im Auge behalten hatte und seine Mutter im Obergeschoss schlief. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte David hinausgesehen und Elijah nicht entdeckt, weshalb er rufend zum See geeilt und ins Wasser gewatet war, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Als er allem Anschein nach Blut auf einer der Holzstufen gesehen hatte, war er verst?ndlicherweise in Panik geraten und zurück zum Haus gelaufen, um die Polizei zu rufen.
Die Cops suchten den See und die anliegenden Waldstücke flüchtig ab. Sie verh?rten auch die Nachbarn und es wurde Nancy Stein zitiert, die David Dentmans Aussage best?tigte: Sie war mit dem Hund spazieren gegangen und hatte Elijah auf der Holztreppe im Wasser beim Spielen gesehen. Sp?ter am Nachmittag sei ihr dann ein spitzer Schrei von dorther aufgefallen, bei dem Nancy Stein sich erst sp?ter etwas gedacht habe, wie sie behauptete …
Nachdem ich den Bericht durchgelesen hatte, kam es mir vor, als h?tte mich jemand wiederholt in den Magen geboxt. Es gab einen wichtigen Aspekt des Vorfalls, den mir Adam nach der Party bei sich zu Hause nicht geschildert hatte: Elijahs Leichnam blieb seitdem verschollen. Selbst die Taucheinheit des Westlake Police Departments hatte ihn nicht gefunden. Dem Polizeichef zufolge befand sich das Wasser des Sees w?hrend der Sommermonate auf dem H?chststand, und der anhaltende Regen der vergangenen Monate hatte den Grund aufgewühlt, was die Sicht unter Wasser erschwerte. Man durchk?mmte das Gew?sser noch den ganzen Abend lang, stie? aber nicht auf die Leiche. Sie haben den Jungen nie gefunden.
Das letzte Wort zum Thema las man auf dem Titel der darauffolgenden Ausgabe: Die Polizei ging davon aus, Elijah sei abgerutscht und habe sich den Kopf am Holz aufgeschlagen, das Bewusstsein verloren und schlussendlich den Tod gefunden – er war ertrunken. Die DNA-Tests hatten ergeben, das Blut auf den Treppen war das von Elijah. Den Schrei, den Nancy Stein vernommen hatte, stammte vermutlich von Elijah, als er die Treppen hinabfiel, bevor er mit dem Kopf aufgeschlagen war. Und genau so wurde der Fall abgeschlossen.