Die Treppe im See(33)
Er schob eine seiner breiten Schultern zurück. ?Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Na ja, es würde mich doch wundern, h?tte Kyles Tod nicht irgendetwas damit zu tun. Dann k?nnten wir auch behaupten, nichts von alledem, was um uns geschieht, h?tte überhaupt eine Auswirkung auf unser Leben.?
Ich h?tte ihn gern gefragt, ob er je schwei?gebadet aufwachte und nach Luft schnappte, w?hrend er glaubte, eine Geisterhand schleife ihn in ein nasses Grab. Hatte er schon einmal mitten in der Nacht aufrecht im Bett gesessen, weil Schritte auf dem Flur – Schritte, die sofort verklangen, sobald man den Atem anhielt und sich auf sie konzentrierte, wartete und wartete – an sein Ohr gedrungen waren? Das waren alles die Dinge, die mich als Kind geplagt hatten … und seit Kurzem wieder taten, mich wie ein alter Fluch heimsuchten. Ich fragte mich, welche M?chte in unserem neuen Haus zugange waren. Welcher Fluch lastete auf diesen Mauern?
Die Vorstellung jagte mir eine Heidenangst ein.
?Wie dem auch sei?, fuhr Adam fort. ?Vom Standpunkt eines professionellen Ermittlers aus – und ein solcher zu sein, ma?e ich mir durchaus an – ziehst du wohl allzu voreilige Schlüsse aus dem Zimmer, das du in eurem Keller gefunden hast.?
?Aha. Welche Schlüsse sollen das sein??
?Zuallererst nimmst du an, es geh?re Elijah, nur weil sein Bett und all die Sachen drinstehen.?
?Und das ist falsch??
?Es ist eine M?glichkeit, aber deshalb ist es noch lange keine Tatsache. Du musst alles andere ausschlie?en k?nnen, bevor du einen Strich darunter ziehst. So k?nnten Veronica und David Dentman, der Onkel des Kindes, das Zeug etwa nach dem Unfall in den Keller geschafft haben, genauso wie Kyles Sachen in der Garage verwahrt worden waren.? Er fuhr mit dem Daumen über die Kante seines Bierglases. ?Und euer Haus hat keine Garage.?
?Shit?, fluchte ich. Zum zweiten Mal in weniger als fünf Minuten hebelte Adam meine Auffassung von Wirklichkeit aus den Angeln. Dabei war der Bastard noch betrunkener als ich. ?Sch?tze, da ist was dran. Von dieser Warte aus habe ich es noch gar nicht betrachtet.? Das Kribbeln in meinem Bauch flaute rapide ab. Die Begeisterung, mit der ich über die fiktiven Dentmans geschrieben hatte, schien zu verebben oder zusammenzuschrumpfen, und ich befürchtete, der Nebel der Schreibblockade ziehe erneut auf und hülle mein Konstrukt ein.
?Trotzdem …? Adams Stimme verklang.
?Was??
?Nun?, hob er an und versuchte – so zumindest fasste ich es auf –, sich seines angeschlagenen Zustandes zum Trotz vorsichtig fortzutasten. ?Selbst wenn es sich nicht um das Zimmer des Jungen handelt, bleibt eine Frage offen.?
?Und die w?re??
?Wozu diente der Verschlag??
Das musste ich zun?chst auf mich wirken lassen, Adam offenbar auch, denn er schwieg mehrere Sekunden lang.
?Leute?, unterbrach Tooey im Vorbeigehen am Tresen. Er zwinkerte uns verstohlen zu. ?Alles klar bei euch??
Ich hob eine Hand. ?Bestens, danke.?
Hinter uns fütterte jemand die Jukebox für Johnny Cash.
?Ich muss dir etwas gestehen?, sagte ich schlie?lich nach einer zu langen Schweigeperiode. Ich erz?hlte Adam davon, wie ich meine alten Aufzeichnungen weggeworfen hatte, die frühen Ergüsse zu Kyles Tod aus der Zeit kurz nach unserem Umzug nach London. ?Damals begriff ich es nicht so recht, aber jetzt glaube ich, klickt es allm?hlich.? Ich wartete auf Adams Antwort; wenigstens h?tte er fragen k?nnen, was mich schlussendlich zu diesem neuen Bewusstsein gebracht hatte, doch er sagte kein Wort. Also r?usperte ich mich einmal mehr und fuhr fort: ?Es lag daran, dass ich mich nach Mutters Beerdigung und unserem Streit elend fühlte. Ich habe mich sch?big benommen und war weder dir noch Beth gegenüber sonderlich fair, geschweige denn, dass ich Jodie damit einen Gefallen getan h?tte.?
Er starrte wieder beharrlich auf sein Bier. ?Oder dir selbst, nicht wahr??
?Ich warf die Notizbücher weg, weil ich dachte, so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu k?nnen.?
?Und? Funktionierte es??
Mein Kopf fühlte sich knallrot und hei? an, wie glühende Asche. Ich schaute in den Spiegel, nur um sicherzugehen, dass kein Schwei? auf meiner Kopfhaut verdampfte.
?Hat es geklappt??
?Ich hasse es, das jetzt zu sagen.?
?Wieso??
?Weil es geklappt hat. Es widert mich regelrecht an, dies zuzugeben, aber w?hrend der Zeit in London habe ich fast überhaupt nicht an Kyle gedacht. Ich erinnere mich sogar an einen Zeitungsbericht über ein kleines M?dchen, das in Highgate Ponds ertrunken war. Beim Lesen sagte ich mir noch: Ach ja, ich verga?, das Gleiche ist Kyle zugesto?en.? Ich rieb meine Augen; die Finger waren vom Bier klebrig. ?Oh Gott, ich h?re mich ?tzend an.?
?Du suchst blo? einen Mittelweg?, erwiderte Adam und trank ein weiteres Glas leer. ?Die Antwort besteht darin, dich einerseits nicht selbst zu verurteilen und ein Leben im Kummer zu fristen, andererseits aber auch nicht zu verdr?ngen, was geschehen ist.? Er schaute auf seine Uhr. ?Wir sollten aufbrechen. Es ist schon sp?t.?
Beinahe h?tte ich ihn am Handgelenk gepackt und die eine verbliebene Frage gestellt, die mir schon seit Tagen auf den Lippen brannte: Glaubst du an Geister? Bevor ich mich jedoch dazu hinrei?en lie?, wurde mir blitzartig klar, wie absurd es geklungen h?tte, also behielt ich es weiterhin für mich.
Ohnehin wei? alle Welt, wo die Toten hinkommen – unter die Erde.
Als ich in jener Nacht nach Hause zurückkehrte, schlief Jodie bereits. Es war bitterkalt im Haus, also legte ich eine zus?tzliche Decke über sie und küsste ihre Wange. Sie regte sich und brummelte, wobei eine ihrer H?nde unter den Laken herausrutschte und meinen Arm packte. Sie drückte zu.