Die Treppe im See(28)



?Sag schon?, forderte ich. ?Du wei?t es, oder??

?Eine Frau auf der Weihnachtsfeier von Adam und Beth hat es mir erz?hlt.? Jodie schlenderte hinüber zu Waschmaschine und Trockner, wo sie beil?ufig Interesse an der gro?en, orangefarbenen Waschmittelpackung heuchelte, die auf einem der Bretterb?den unter der Treppe stand. Ich fragte mich, ob es Nancy Stein gewesen war, die es ihr gesteckt hatte. ?Sp?ter fragte ich Beth darüber aus, und sie best?tigte mir, dass es stimmt.?

?Warum wolltest du es vor mir verheimlichen??

?Hast nicht du mir dieses Geheimnis vorenthalten??

?Ich tat es nur zu deinem Besten. Es h?tte nichts gebracht, dir davon zu erz?hlen.?

?Und ich tat es zu deinem Besten.? Als sie mich wieder anschaute, erkannte ich, dass sie gegen Tr?nen ank?mpfte. ?Ich werde mich deshalb nicht von dir ma?regeln lassen. Das werde ich nicht zulassen. Wei?t du noch, der Abend bei deinem Bruder nach der Beerdigung eurer Mutter? Au?erdem bin ich stets bei dir, wenn die Erinnerung an Kyle dich wieder einholt. Ich bekomme mit, wenn du im Schlaf über ihn redest. Vor allem aber wei? ich, wie du nur allzu gern über deinen Gedanken brütest. Du qu?lst dich selbst.? Sie verkrampfte die Hand so arg, dass ich befürchtete, die Bierflasche ginge zu Bruch. ?Also ja: Ich nahm an, du wüsstest es nicht, und hatte nicht vor, es dir jemals unter die Nase zu reiben. W?re es n?tig gewesen, es zu deinem geistigen Wohlergehen unter den Tisch zu kehren, h?tte ich es mit ins Grab genommen.?

?Meine Güte … es tut mir weh, dass du glaubst, ich sei so schwach.?

?Werde verdammt noch mal erwachsen. Versuch nicht, mir Schuldgefühle einzureden. Das wird nichts.?

Jodie hatte recht. Ungeachtet der Tatsache, dass ich mich verarscht fühlte, begriff ich sehr gut, weshalb sie den Mund gehalten hatte. Allzu deutlich entsann ich mich jenes Abends nach Mutters Beisetzung, der herben Worte, die ge?u?ert worden waren, und der Hiebe, die Adam und ich einander versetzt hatten.

?Okay?, sagte ich schlie?lich, indem ich auf sie zuging, um sie zu umarmen, wobei der Flaschenhals in meinen Unterbauch stach. ?Ist schon gut.?

Jodie seufzte an meiner Schulter, da lie? ich sie wieder los. Ich erwartete eigentlich, sie h?tte feuchte Augen, doch dem war nicht so. Sie sah einfach nur unglaublich müde aus.

?Am besten rufst du irgendwen an, der herkommt und dieses Zeug wegschafft.? Sie nickte in Richtung des Kinderzimmers. ?Und ich will kein Wort mehr über das verlieren, was dem Jungen zugesto?en ist. Es ist tragisch, hat aber nichts mit uns beiden zu tun.?

?Richtig?, pflichtete ich bei, w?hrend ich noch eine ihrer Schultern massierte. ?Absolut überhaupt nichts.?





Kapitel 11




Am n?chsten Morgen rief ich eine R?umungsfirma namens Allegheny Pickup and Removal an und gab einem gewissen Harry Peters zu verstehen, man solle Elijah Dentmans Zeug abholen. Es würde zehn Tage dauern, bis wir drank?men. Jodie war nicht sehr erfreut darüber. Falls sie dem versteckten Kinderzimmer und seiner Einrichtung tagt?glich mehr als nur einen flüchtigen Gedanken schenkte, gelang es ihr aber auf fabelhafte Weise, sich nichts anmerken zu lassen.

Ich hingegen ertappte mich dabei, zu jeder Gelegenheit, die sich ergab, hinunter in den Keller zu schleichen – obwohl ich meiner Frau versprochen hatte, genau dies zu unterlassen –, angetrieben durch ein unerkl?rliches Verlangen, und um Elijahs Habe zu durchforsten.

Adams Geschichte über den Unfalltod des Buben hatte bei der Entdeckung dieser Gruft von einem Zimmer dazu geführt, dass ein vormals verglimmender Funke der Kreativit?t erneut in meiner Seele aufglühte. So lichtete sich meine Schreibblockade wie schwere Nebelschwaden, die hinaus aufs Meer zogen, und ich sah es wieder vor mir, das gro?e Ganze.

Ich verlor jegliches Interesse an dem Manuskript, mit dem ich mich bisher befasst hatte. Holly hatte die ersten Kapitel bereits gelesen und Begeisterung bezeugt, doch ich fing an, eine fiktive Familie – oder hatte sie nicht vielleicht doch allzu wirkliche Vorbilder? – zu entwickeln, die von schweren Zerwürfnissen heimgesucht wurde: Eine alleinstehende Mutter und ihr junger Sohn zogen bei dessen Onkel und Gro?vater ein, der wiederum im Sterben lag. Welche Art von Leben mochten diese Menschen führen? Was geschah mit diesem Jungen, der dazu gezwungen war, in einer Zelle zu hausen, die sich Poe für Das Fass Amontillado h?tte ausdenken k?nnen?

Natürlich entgingen mir die Gemeinsamkeiten der Tode von Elijah und Kyle nicht. Beide waren ungef?hr im gleichen Alter gestorben, und ihre Zimmer hatte man nach dem jeweiligen Unfall auf mysteri?se Weise unberührt gelassen, Elijahs im Keller von Waterview Court 111, Kyles in unserem Haus in Eastport. Als ?ltester Sohn hatte Adam ein Zimmer für sich allein gehabt, w?hrend ich mit Kyle zusammengelegt worden war. Nach seinem Tod hatte Vater meine Sachen zu Adam gebracht, und ich war gefolgt. Eines kalten Tages im Dezember hatten meine Eltern Kyles Hinterlassenschaft still und wie durch F?den manipuliert in die Garage verbannt.

(Was sp?ter damit geschehen war, entzog sich meiner Kenntnis. Nachdem Vater gestorben und Mutter zu ihrer Schwester nach Ellicott City gezogen war, kehrten Adam und ich zur St?tte unserer Kindheit zurück, um uns um das Verm?chtnis unseres Vaters zu kümmern. Ich rechnete damit, Kyles Sachen immer noch in der Garage zu finden, sah mich gnadenlos damit konfrontiert – wie ein M?rder am Pranger, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts nahte –, musste am Ende aber verdattert feststellen, dass es verschwunden war. Irgendwie kam mir dies schlimmer vor, als alles noch einmal vor Augen zu haben, weil es bedeutete, dass sich meine Eltern zumindest einmal Zeit genommen hatten, um sich der Erinnerungsstücke zu entledigen. Der Gedanke daran, welchen Kummer sie dabei verspürt haben mochten, schmerzte sehr.)

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