Die Treppe im See(23)
?Und du hast sie überall am Boden verteilt?, fügte sie leicht vorwurfsvoll hinzu, sich im Raum umschauend. ?Toll.?
?Vergiss den Boden. Wie erkl?rst du dir die Hand??
?Zufall??
Ich konnte nicht anders, als zu lachen. ?Meinst du das ernst??
?Warum nicht? Ist eine Allerweltsfarbe.?
?Als wir eingezogen sind, war kein einziges Zimmer graugrün gestrichen, und au?erdem h?tte ich das hier so oder so l?ngst bemerken müssen.
?Ach ja?? Der herablassende Tonfall in Jodies Stimme beunruhigte mich. ?H?ttest du??
?Was meinst du damit??
Sie erhob sich und klopfte die H?nde an den Oberschenkeln ihrer Jeans ab. ?Meine Taschen liegen oben kreuz und quer im Flur. Hilfst du mir damit??
?Machst du Witze? Was ist hiermit??
Jodie seufzte. Ihr Blick wanderte wieder Richtung Handabdruck, dann zurück zu mir. Schlie?lich fragte sie: ?Hast du wenigstens eine Theorie dazu, in die du mich einweihen m?chtest??
Damit brachte sie mich aus der Fassung. ?Eine Theorie??
?Genau. Wo kommt der Abdruck denn deiner Meinung nach her??
?Ich … Keine Ahnung?, gestand ich.
?Dann komm mit hoch und hilf mir mit den Eink?ufen. Ich will was zu Abend kochen und Wein dazu trinken.? Sie drehte sich um und wollte hochgehen.
?Warte.? Ich hob den Notizblock vom Boden auf, wo ich ihn liegen gelassen hatte. Ich hielt ihn ihr vor wie ein Ankl?ger bei der Pr?sentation von Beweisen vor den Geschworenen. ?Dann h?tten wir das noch.?
Jodie erwiderte nichts, schien vielmehr zu kapitulieren und lehnte sich an die Wand, um durch die Seiten zu bl?ttern.
?Ich warf es in London in den Müll, als wir Platz in der Wohnung schafften. Wei?t du noch??
?Travis …?
Ich fuhr ger?uschvoll mit dem Daumen durch die Seiten. ?Du kennst meine Aufzeichnungen, die ich als kleiner Junge nach Kyles Tod verfasst habe. Obwohl ich sie in London wegwarf, liegen sie jetzt hier herum.?
?Das war ich.?
Ich starrte sie mit offenem Mund an.
?Ja?, bekr?ftigte sie. ?Ich fand diese Bl?cke im Müll und nahm sie wieder mit ins Haus. Hab sie in einen Karton gelegt, ohne dir Bescheid zu sagen.?
?Wieso??
?Weil ich dachte, du seist mal wieder unachtsam gewesen.? Jodie kratzte sich im Gesicht, rote Striemen auf ihrer Wange blieben zurück. ?Vielleicht h?ttest du es eines Tages bereut, sie weggeworfen zu haben, und das wollte ich nicht.?
Ich war sprachlos; konnte blo? auf den Einband des Blocks stieren, der eine schwarz-wei?e Raubkatze zeigte.
?Travis, er war dein Bruder. Ich wollte verhindern, dass du einen Fehler begehst und du dich sp?ter dafür hasst.? Sie legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. ?Ist es das, worum es hier geht? Wegen Kyle??
Sein Name in ihrem Mund l?ste einen grellen Pfiff wie von einer hei?en Dampfmaschine in meinem Sch?del aus. Ich warf den Block auf einen Berg Bücher, glotzte aber weiter auf meine leeren H?nde, als hielte ich ihn nach wie vor fest.
Jodie kam n?her und umarmte mich von hinten. Als sie mir einen Kuss in den Nacken gab, spürte ich ihren Herzschlag an meinem Rücken. Wieder fiel mir der Duftcocktail auf, mit dem sie sich in der Drogerieabteilung besprüht hatte. ?Du bist mir doch nicht b?se, oder? Dafür, dass ich das getan hab, meine ich.?
Ich drückte ihre H?nde, die sie vor meinem Bauch verschr?nkt hatte. ?Nein.?
?Ich liebe dich, wei?t du. Ich sorge mich um dich und will, dass es dir gut geht.?
?Das ist meine Aufgabe?, hielt ich dagegen.
?Machen wir es zu einer gegenseitigen. Okay??
Ich drückte sie fester. ?Okay.?
?Komm jetzt.? Sie lie? mich los und ging zur Treppe. Ihr Schatten folgte an der Wand wie ein Kometenschweif. ?Essen wir was Gutes. Ist übrigens eiskalt da unten.?
Jodie wusste von Kyle, natürlich. Für sie hatte ich einen jüngeren Bruder gehabt, der gestorben war, mehr nicht. Was ich ihr vorenthielt, war meine Schuld an seinem Tod. (Soweit ich wusste, waren die einzigen lebenden Menschen, die die Wahrheit kannten, Adam und Michael Wren, ein Beamter der Maryland State Police … vorausgesetzt Detective Wren weilte noch unter den Lebenden.)
Ich erz?hlte Jodie knapp eine Woche nach unserer Verlobung davon, als wir abends im Bett meines Appartements in Georgetown lagen. Wir waren nackt, schwitzten und keuchten angestrengt nach dem Liebemachen und starrten beide unverbindlich an die Decke, die pl?tzlich zu niedrig über uns zu h?ngen schien. Die Ver?ffentlichung von The Ocean Serene stand gerade an, und ich – beziehungsweise Alexander Sharpe – hatte es schlicht und ergreifend Kyle gewidmet. Jodie hatte die Druckfahnen kurz davor gelesen, w?hrend ich in die Tageszeitung vertieft gewesen war. Sie fragte mich, wer Kyle gewesen sei.
?Mein Bruder?, erkl?rte ich ihr.
?Ist Adam –?
?Kyle war mein jüngerer Bruder. Er starb, als ich dreizehn war.?
?Oh … das tut mir leid, Travis.?
?Ist schon gut.?
?Nein?, beharrte sie. ?Ist es nicht. Ich wusste nicht …?
?Ich habe es dir nicht erz?hlt?
?Schatz, das ist wirklich …?
?Ist okay. Es ist schon lange her.?
?Willst du darüber sprechen??
Wollte ich nicht. Andererseits hatte ich mich für den Rest meines Lebens dieser Frau verschrieben und war mir bewusst, dass sie deshalb ein bestimmtes Anrecht besa?, und Jodie musste von Kyle erfahren.
?Er war zehn?, h?rte ich mich sagen, und es h?tte genauso gut die Stimme eines anderen sein k?nnen, die durch ein Rohr tief aus dem Erdinneren an mein Ohr drang. ?Wir lebten damals in Eastport, einem beschaulichen Küstenvorort von Annapolis direkt an der Chesapeake Bay mit Leuchtturm, idyllisch kleiner Zugbrücke und allem Drum und Dran. Rückblickend kommt es mir vor wie ein Foto von Jean Guichard. Aber zum Aufwachsen war es ein wunderbarer Ort.?