Die Treppe im See(22)



W?hrend ich mit stockendem Atem umbl?tterte, war mir bewusst, auf was ich sto?en würde, bevor ich es sah, ein verblasstes Polaroid-Foto von Kyle, Adam und mir am Flussufer in Eastport. Wir hielten einander in den Armen, und Kyles kurzer Blondschopf hob sich von Adams beziehungsweise meinem struppigen dunklen Haar ab. Wir sahen alle drei den Fotografen an – unseren Vater, dessen Schatten abscheulich verhei?ungsvoll auf Kyle fiel. Ich hatte das Bild an jenem Nachmittag eingeklebt, als Adam von Dad zum College zurückgefahren worden war, w?hrend sich in unserem Haus unheilvoll drohende Stille ausbreitete, wie Eiswasser.

Ich schlug das Notizbuch zu, stand aber nicht sofort wieder auf. Dies lag daran, dass meine Beine vor Entsetzen steif geworden waren; ich konnte nunmehr genauso wenig auf sie bauen wie ein Querschnittsgel?hmter. So rieb ich meine Augen mit einem Handballen, wobei die Feuchtigkeit meinen Blick vorübergehend trübte. Als ich wieder klar sehen konnte, schaute ich zuf?llig auf eine der angeschlagenen Gipsw?nde gegenüber.

In der ersten Woche hatte ich auf Jodies Bitte hin ein paar Beh?lter Halbglanzfarbe gekauft, um Diele und Wohnzimmer dezent graugrün zu streichen. Fast zwei Tage waren dabei draufgegangen, und am Ende hatten wir einen halben Eimer übrig. Ich hatte den Deckel wieder festgeklopft und das Gef?? unter die Kellertreppe gestellt. Doch jetzt stand es nicht mehr da, sondern zwischen zwei Paaren Skiern und einem alten Couchtisch. Der Deckel lag mit der verschmierten Seite nach oben direkt daneben. An der Wand prangte genau in der Mitte des gleichm??ig wei?en Gipses ein Handabdruck in der entsprechenden Farbe.

Sp?ter und für den Rest der Woche, in der ich den Augenblick im Geiste abermals durchspielte, wurde mir klar, dass ich nicht l?nger als zehn bis fünfzehn Sekunden dort gekniet und auf den Abdruck gestarrt hatte, obwohl ich es zu jenem Zeitpunkt wie eine volle Stunde empfunden hatte. Diese war mit der Beh?bigkeit einer evolution?ren Entwicklung verstrichen. Ich nahm die Fasern meiner Kleidung wahr und die Hitze, die pl?tzlich von mir abstrahlte, ganz zu schweigen von der G?nsehaut und den aufgestellten Nackenhaaren. Vor meinen Augen t?nzelten geisterhafte Am?ben, und es brannte, als seien Blutgef??e geplatzt. Jeden Muskelstrang meines klopfenden Herzens spürte ich, jede Sehne und jedes Band, das sich durch meinen K?rper zog.

Ich erhob mich und n?herte mich dem Abdruck mit weichen Knien. Als ich ihn mit zwei Fingern berührte, war er immer noch klebrig, also nicht v?llig eingetrocknet.

Er stammte von einer Kinderhand.

?Wer ist hier unten?? Die Worte klangen zittrig und leidlich überzeugend. ?Kyle??, fügte ich an und ?ngstigte mich umso mehr.

Erneut vernahm ich ein schwaches Klicken von der anderen Seite des Raumes und erschrak so sehr, dass ich herumfuhr und praktisch genau mit dem Hintern auf dem offenen Farbkübel landete. Als er unter mir wegrutschte, fiel ich auf die Seite. Wie in Zeitlupe verfolgte ich mit, dass er umkippte und im Halbkreis herumrollte, wobei er einen graugrünen Bogen auf dem Beton hinterlie?.

?Jesus!? Ich raffte mich vom Boden auf.

Das Klicken ging weiter und endete schlie?lich in einem bauchig tiefen Knall: Die Heizung ging an.

?Herrgott noch mal …? Ich zwang mich zu einem nerv?sen Lachen, bevor ich zum Waschbecken an der Wand ging und den Hahn aufdrehte. Die Rohre rasselten und pfiffen, bevor sich ein kupferfarbener Strahl kaltes Wasser ergoss. Ich hielt die H?nde darunter, was mir umso eindrücklicher vor Augen führte, wie stark ich schwitzte. Schlie?lich nahm ich einige Papiertaschentücher und entfernte die verschüttete Farbe, so gut es ging. Zuletzt hatte ich den ganzen Sto? aufgebraucht, mit dem Ergebnis, dass der Boden aussah wie mit gro?en Magnolienblüten bemalt.

Mit dem letzten Tuch in der Hand erwog ich, den Abdruck von der Wand zu wischen. Am Ende entschied ich mich aber dagegen. Warum, wusste ich sofort, blo? sollte ich es mir erst sp?ter am Abend eingestehen: Ich wollte, dass Jodie es sah, um ihr zu beweisen, dass ich nicht verrückt wurde.

Das erneute L?uten meines Handys bescherte mir fast einen Herzinfarkt. Ich ging ran und h?rte, noch bevor ich mich melden konnte, Hollys schrille Stimme durch den H?rer kreischen: ?Travis, alles in Ordnung? Soll ich die Polizei verst?ndigen??





Kapitel 9




?Ja?, sagte Jodie, als sie in die Hocke ging. ?Es ist ein Handabdruck.?

?Aber von wem stammt er??, fragte ich. Ich stand mit verschr?nkten Armen neben ihr, als schmolle ich aus irgendwelchen Gründen. Sie war erst zwei Minuten mit vollbeladen Einkaufstaschen von Macy‘s zurückgekehrt und roch nach unterschiedlichen Parfüms aus dem Kaufhaus, als ich sie an die Hand genommen hatte und sie die Kellertreppe hinunterzog, w?hrend die Scheinwerfer von Beths Auto noch unsere Auffahrt ausleuchteten.

Nun betrachtete Jodie den Fleck an der Wand und wollte ihn anfassen.

?Nicht?, sagte ich ein wenig zu laut.

Sie zog die Hand erschrocken zurück, als habe ein Tier nach ihr geschnappt, und warf mir einen verwirrten Blick über die Schulter zu.

?Verschmier ihn nicht. Er soll unversehrt bleiben.?

?Warum? Glaubst du, er stammt von Bigfoot??

Ich ging neben ihr auf die Knie. ?Findest du es nicht komisch? Verflucht sonderbar??

?Dass sich ein Handabdruck auf unserer Wand befindet??

?Das ist der Handabdruck eines Kindes, der ausgerechnet hier erscheint?, führte ich genauer aus, mit dem Finger gegen die Wand trommelnd.

?Und? Die Dentmans hatten ein Kind. Ist es so schwer nachzuvollziehen, dass –?

?Nein, du checkst es nicht.? Erneut klopfte ich gegen die Wand. ?Das ist die Farbe, mit der wir oben ausgestrichen haben. Erkennst du sie nicht wieder? Du hast sie doch selbst ausgesucht, um Himmels willen.?

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