Die Treppe im See(17)



Holly Dreher, meine Lektorin von Rooms of Glass Books, hatte begonnen, gereizte Nachrichten auf meiner Handy-Mailbox zu hinterlassen, um zu fragen, wo die restlichen Kapitel blieben, die ich ihr versprochen hatte. Obwohl ich meine E-Mails seit mehreren Tagen nicht abgerufen hatte, ahnte ich, dass mein Postfach ebenfalls mit ihren aufdringlichen und über?ngstlichen Nachrichten voll war. Zwei Monate blieben mir noch bis zur offiziellen Deadline, aber so wie es gegenw?rtig aussah, erwog ich langsam, ihr etwas aus dem jüngsten Roman von Stephen King zu kopieren und per FedEx zukommen zu lassen.

Gegen Viertel vor sechs trudelten allm?hlich die ersten G?ste bei meinem Bruder ein, zuerst die Goldings. Sie wirkten duckm?userisch, kamen geschlossen in Braunt?ne gehüllt und brachten einen mit reichlich Alufolie bedeckten Schmortopf mit. Befremdlich lange verharrten sie vor dem Servierwagen, auf dem zu früher Stunde noch kein Alkohol stand, sondern ein Becher Zahnstocher und ein Stapel vom vergangenen Heiligabend übriggebliebener Servietten.

Zehn Minuten sp?ter trafen weitere Paare ein. Adam legte eine CD mit Weihnachtsliedern von Elvis Presley auf, und je mehr G?ste sich hinzugesellten, desto mehr ?hnelte die Stimmung dem, was man unter einer Party verstand.

?Die meisten Leute hier in der Nachbarschaft sind relativ umg?nglich?, bemerkte Adam, w?hrend er Drinks für seine G?ste mischte. Wir waren gerade allein in der Küche. ?Natürlich gibt es aber wie in jeder Stadt auch hier welche, denen du lieber aus dem Weg gehen wirst.? Er schnitt eine Limette in zwei Halbmonde und fügte hinzu: ?Gary Sanduski, zum Beispiel. Wenn er über sein Autohaus erz?hlt, würdest du dir am liebsten einen Cocktailpicker in den Kopf rammen.?

?Okay. Immer einen kleinen Plastikspie? zur Hand haben.?

?Die Sandersons. Die sind auch ein schr?ges Duo. Ich wette einen Hunderter darauf, dass er schwul ist. Er leitet ein Raumausstatter-Unternehmen von zu Hause aus, und seine Frau ist Hypothekenmaklerin oder so. Wie dem auch sei: Richtig befreundet sind wir hier mit niemandem. Dennoch wollte Beth die gesamte gottverdammte Nachbarschaft einladen. Sie sagte, es tue unserem Karma gut, und so oder so solltet ihr eure unmittelbaren Nachbarn kennenlernen.? Adam schnalzte mit der Zunge. ?Immer der Stratege, meine Frau.?

Die Escobars, die Sturgills, die Copelands, die Denaults, Poans, Lundgards und Mortases; Pater Gregory, der engelsgleiche katholische Priester aus Beths Kirchengemeinde; Douglas Cordova, ein st?mmiger Kerl und Adams Polizeikollege; Tooey Jones, der Besitzer der Kneipe Tequila Mockingbird, die Jodie und mir bei unserer Ankunft in der Stadt aufgefallen war. Das Haus meines Bruders verwandelte sich auf wundersame Weise in eine Schaubühne für karierte Leinenhemden und Outdoor-Stiefel, auf der man sich im l?ndlichen Dialekt unterhielt und frisch nach Gebirgsluft duftete.

Viele meiner neuen Nachbarn bestanden darauf, gemeinsam mit mir anzusto?en. Da ich nicht unh?flich wirken wollte, war ich schon halb voll, als die M?nner mich in der Küche bedr?ngten. Sie waren ohne Ausnahme sympathisch und freundlich auf ihre kleinst?dtische Weise, und da ich eine Menge trank, fand ich den Ansturm nicht weiter schlimm.

Im Wohnzimmer unterhielt Jodie die Frauen. Ihre Stimmen hallten laut und schrill über den Flur in die Kochnische.

Tooey schüttete irgendetwas aus einer dunklen Flasche ohne Etikett in Biergl?ser. Zun?chst dachte ich, es sei etwas Hochprozentiges – Bourbon vielleicht –, doch beim Einschenken bildete sich Schaum an der Oberfl?che des Getr?nks. Ein paar der M?nner lachten einhellig über Tooeys Bemerkung und einer klopfte ihm auf den Rücken. Als ein anderer versuchte, eines der Gl?ser vorzeitig wegzunehmen, klopfte Tooey ihm im gespielten Ernst auf die Finger.

?Warte, warte, warte?, sagte Tooey und drückte mir einen der Drinks in die Hand. ?Zuerst muss jeder ein Glas haben.?

?Warum hast du nicht auch auf meiner Weihnachtsfeier Barkeeper gespielt, Jones??, wollte einer der Nachbarn wissen.

?W?re vielleicht besser gewesen. H?tte sicherlich für mehr Stimmung gesorgt.?

Gr?lendes Gel?chter.

?Komm schon, beeil dich?, dr?ngte ein anderer.

Ich wandte mich zu Adam, den man ebenfalls mit einem Glas der dunklen Flüssigkeit mit Schaumkrone bedacht hatte, und fragte im Flüsterton: ?Was ist das für ein Zeug??

?Tooeys Tonic?, antwortete er.

?Und was soll das sein??

?Bier.?

?Echt?? Ich hielt es ins Licht. Es war grünlich und ich konnte kleine Partikel am Bodenglas schwimmen sehen. Ich dachte an kichernde Hexen vor einem brodelnden Kessel.

?Die Zusammensetzung ?ndert sich nahezu w?chentlich?, flüsterte mir Adam ins Ohr. ?Er will schon seit Jahren Vertriebsh?ndler dafür begeistern, aber man kann das Zeug bislang nur in seinem Laden kaufen.?

?Sieht aus als sollte es verboten werden?, entgegnete ich vermutlich einen Tick zu laut, denn ein paar der Umstehenden unterdrückten ein Lachen.

?Grün?, proklamierte Tooey, ?heilt Krebs. Grün regiert die Welt. Grün ist Gold.?

?Es ist nicht nur einfach grün?, fügte ich an.

Tooey ?ffnete den Mund und brach in wüstes Gel?chter aus. Es sah erzwungen aus, klang aber aufrichtig. Er hatte breite Lippen, aber eingefallene Wangen, und ich erkannte die Plomben in seinen Z?hnen, obwohl ich in der anderen Ecke der Küche stand. Seine Kleidung – Flanellhemd, Lederweste und ausgebleichte Bluejeans – schlackerte an seinem K?rper, als habe man sie über einen Zaunpfahl drapiert. Das einzig Ansehnliche an ihm waren die Augen – klein, blassblau, aufrichtig, tief, menschlich.

?Der war gut, Shakespeare?, sagte Tooey. H?tte jemand anders mich so genannt, w?re ich an die Decke gegangen, aber dieser Typ – vielleicht lag es an diesen Augen – wirkte so ungezwungen, dass es fast anheimelnd bis z?rtlich klang. Wie bei alten Armee-Kumpel, die füreinander Spitznamen haben. ?Aber – aber – koste es. Schmecke es.?

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