Die Treppe im See(21)



Drau?en blies der Wind kr?ftiger und rüttelte an den Fensterl?den der Küche. Das Haus knirschte und ?chzte überall um mich herum. Ich kam mir vor wie im Bauch eines riesigen Fisches.

?H?ttest du die E-Mails gelesen?, fuhr Holly fort, ?wüsstest du, dass ich eine Menge lobender Worte für die ersten Kapitel übrig hatte.? Sie machte eine dramatische Pause. ?Ich bin gespannt, den Rest zu lesen.?

?Sicher?, erwiderte ich … und hielt sofort inne. Eine Bewegung im Flur erregte meine Aufmerksamkeit. Ich sah – oder glaubte zu sehen –, wie ein Schatten der L?nge nach über die Wand kroch. Meine Eingeweide verkrampften, und mein Herz war pl?tzlich hart wie Granit. Mit zugehaltener Sprechmuschel, rief ich Jodies Namen und wartete auf eine Antwort, die jedoch nicht folgte. Au?erdem h?tte ich die Haustür geh?rt, wenn sie es gewesen w?re.

?Wir werden die Druckauflage bei dem neuen Buch verdoppeln.? Holly klang auf einmal viel zu laut. ?Wenn es nach mir geht zumindest. Aber zuerst musst du abliefern.?

Ich schlich gerade rechtzeitig den Flur hinunter, um zu beobachten, wie jemand am Ende langsam die Kellertür hinter sich zuzog. Als das Schloss einrastete, klang dies als ob jemand eine Pistole nachlud. Ich schluckte einen dicken Schleimklumpen hinunter.

?Du bist be?ngstigend wortkarg. Einen Aufschub willst du doch hoffentlich nicht, oder? Der Ver?ffentlichungstermin steht!?

Irgendwie fand ich meine Stimme wieder. ?Nein, das sind klasse Neuigkeiten.? Die Worte blieben mir regelrecht im Halse stecken. Die Stufen der Kellertreppe knirschten, als jemand hinunterging. Ich pirschte mich mit vehement klopfendem Herzen an die Tür.

?Was zum Teufel ist los mit dir??, bellte Holly. ?Du klingst, als stündest du komplett neben dir, Mann.?

?Ich muss aufh?ren. Ruf dich zurück.?

?Was ist denn??

?Ich glaube, hier ist gerade jemand eingebrochen.?

?Travis? Du meinst, in euer Haus??

?Ich muss jetzt.?

?Soll ich –?

?Ich melde mich wieder?, sagte ich und legte auf. Das Handy rutschte vor Schwei? in meiner Hand. Ich lie? es in die Hosentasche gleiten, dann ?ffnete ich die Kellertür. Unten brannte Licht, das ich definitiv nicht eingeschaltet hatte. Und Jodie war, soweit ich wusste, seit L?ngerem nicht nach unten gegangen. ?Hey?, rief ich im verbissenen Versuch, bedrohlich zu klingen, und scheiterte kl?glich. ?Ich wei?, dass Sie da unten sind. Kommen Sie hoch, wir k?nnen über alles reden. Ich habe nicht vor, die Polizei zu rufen.?

Ich stand eine gefühlte Ewigkeit lang am Ende der Stufen und schwitzte wie verrückt. Gerade als sich mein Herzschlag weitgehend erholte, erklang ein dumpfer Knall gefolgt von wiederholtem Klicken, ebenfalls hohl und wie aus der Ferne, als fielen Bleistifte auf den Betonboden. Dabei schien der Schwei? augenblicklich auf meiner Haut zu gefrieren. Fast schaffte ich es, mir einzureden, ein Tier sei ins Haus gelangt, schnüffle im Keller herum und veranstalte ein heilloses Durcheinander. Dann sah ich, dass der Teppichl?ufer auf der Treppe triefte, eindeutig von nassen Fu?abdrücken.

Unsichtbare H?nde schlossen sich um meine Kehle. Mit einem Mal wurde das Atmen zu einer kaum bew?ltigbaren Aufgabe. Ich zückte das Handy, um die Notrufnummer zu w?hlen – trotz einer erdrückenden Ahnung am Grunde meiner Seele, dass dem, was dort unten lauerte, weder Kugeln noch Handschellen Einhalt gebieten konnten.

Nein, erhob sich eine Stimme in meinem Hinterkopf. Das ist d?mlich. H?r auf, dich selbst in Panik zu versetzen.

Qu?lend langsam machte ich mich auf den Weg nach unten, wobei die Bohlen unter meinem Gewicht ?chzten. Am Fu? der Treppe atmete ich tief ein und z?hlte im Kopf bis fünf, bis ich um die Ecke schnellte und mich darauf gefasst machte, wem oder was auch immer die Stirn zu bieten.

Der Keller war leer. Im Hauptraum standen weitere verwaiste Sachen – Dinge, von denen wir noch nicht wussten, wo wir sie verstauen sollten – und die einzelne Glühbirne an der Decke warf Schatten an alle W?nde. Ich stand mit angehaltener Luft da und harrte eines weiteren Ger?usches, um genau ausmachen zu k?nnen, wo sich der Eindringling versteckte – ein Waschb?r oder Opossum sicherlich –, vernahm aber bis auf meinen eigenen Herzschlag kein weiteres Ger?usch mehr. Dann stach mir etwas ins Auge: Eigentlich war es unm?glich, da ich es beim Umzug weggeworfen hatte, und die Erinnerung daran, wie es in den Müllcontainer hinter unserer Wohnung in London gewandert war, stand mir so deutlich vor Augen, dass ich die schwindende W?rme der Sonne im Nacken beinahe spürte und die angrenzenden B?ume roch.

Es ist nicht hier, redete ich mir ein. Ich habe es weggeworfen und es existiert nicht mehr.

Dennoch schritt ich hinüber, wobei ich einen verzerrt langen Schatten an die Wand gegenüber warf. Ich kniete mich nieder, immer noch mein Handy im Griff und starrte es an.

Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen, riet einst mein Therapeut Was notierst du eigentlich st?ndig auf diesen Bl?cken?

Was vor mir auf dem Kellerboden lag – wie eine Kugel, die jemand aus der Vergangenheit in die Gegenwart abgefeuert hatte –, war eines jener Notizbücher. Er war irgendwo in der Mitte aufgeschlagen und ich erkannte meine kindliche Handschrift auf den Seiten wieder. Die Tinte war an manchen Stellen verschmiert. Hier standen meine Ausführungen zu dem, was Kyle widerfahren war, aufgeschrieben aus einem unbewussten Drang zur Bew?ltigung, im Zuge einer entmutigten Phase – ein weiterer Begriff, den der Therapeut gepr?gt hatte – meiner Jugend.

Ich berührte das Notizbuch mit einer Hand, als k?nne ich es dadurch seiner Existenz berauben und wie Konfettiregen vor schillerndem Discolicht zurück in das Paralleluniversum bef?rdern, aus dem es stammte. Die Seiten waren kalt, sehr kalt.

Ronald Malfi's Books