Die Treppe im See(19)



Nancy drehte den Kopf und erwiderte unseren Blick. Ich erwartete ein L?cheln, wurde aber entt?uscht.

?Was ist nun mit den Dentmans passiert??

?Tut mir leid.? Ira winkte ab. ?Ich h?tte besser den Mund gehalten.?

?Nein?, beharrte ich. ?Was –?

?Wirklich.? Jetzt war er es, der die Hand ausstreckte.

Perplex nahm ich diese nicht sofort an.

?Ich war unachtsam. Denken Sie nicht weiter darüber nach. Mir steht nicht zu, darüber zu reden. Ich entschuldige mich aufrichtig, Travis. Sch?n – wirklich sch?n, Sie kennengelernt zu haben.?

Ich sah ihm hinterher. Er gesellte sich zu seiner Frau. Als sie sich unterhielten, steckten sie die K?pfe zusammen, dass ihre Rücken und H?lse symmetrisch gebeugt waren, wie man es bei Verliebten in Zeichentrickfilmen sieht, wo dann normalerweise noch ein Herz zwischen beiden erscheint.

Jodie hastete mit einem Tablett voller Dessertteller an mir vorbei. ?Einiges los?, summte sie, ohne stehen zu bleiben.

Ich h?rte sie kaum, weil ich zu sehr auf Ira Stein gegenüber fixiert war.

Nachdem alle gegangen waren, rauchten Adam und ich Zigarren auf der Terrasse hinterm Haus. Umgeben von Dunkelheit und dem tiefen Seufzen des Windes in den Kiefern fühlte ich mich enthoben wie nie zu vor. Weit weg von London, D.C. und überhaupt allen Orten, an denen zu leben und alt zu werden ich mir ausgemalt hatte.

?Was ist mit den Dentmans passiert??, fragte ich ihn.

Adam schaute mich von der Seite an, wobei ich mich auf die Schnelle nicht entscheiden konnte, ob er nun l?chelte oder eine finstere Miene aufgelegt hatte. Am Ende war es wohl weder das eine noch das andere. Adam war immer schon ein harter Kerl gewesen. Irgendwie, vielleicht durch kosmische Indifferenz, wusste er immer, was er zu sagen hatte. Nun hatte ich das Gefühl, aus erster Hand eine andere Sicht auf meinen ?lteren Bruder zu bekommen – verwundbar und zaudernd wie jeder andere Mensch auf dieser Welt.

?Hey?, dr?ngte ich. ?Was hat es nun mit diesem gro?en Geheimnis unter Nachbarn auf sich??

?Ich nehme an, jemand hat dir vorhin etwas erz?hlt?, erwiderte er, indem er sich abwandte.

?Ira Stein deutete etwas an, ging aber auf keinerlei Einzelheiten ein. Ihm schien es peinlich zu sein, es erw?hnt zu haben. Was ist passiert??

?Ira Stein?, murmelte Adam, woraus ich schloss, dass er den Mann nicht sonderlich guthie?.

?Komm schon, Mann.?

?Ein alter Einsiedler lebte seit Ewigkeiten in eurem Haus, lange bevor Beth und ich herzogen. Bernard Dentman. Ich wei? nicht, ob irgendjemand unter den Anwohnern ihn genau kannte; nur Ira Stein und seine Frau hatten mehr mit ihm zu tun, bevor er erkrankte. Die Steins leben quasi schon immer hier, wissen also, was sich hinter jeder einzelnen Tür abspielt.? Wieder bezeugte er unterschwellig Abscheu.

?Zu Anfang, als wir gerade hergezogen waren, machten die Nachbarskinder Jacob Angst, indem sie behaupteten, der Kerl sei in Wirklichkeit seit über zweihundert Jahren ein Gespenst und spuke im Haus herum. Schlie?lich überzeugte ich ihn davon, dass Bernard Dentman ein harmloser alter Mann war. Letztes Jahr wurde er krank, weshalb seine beiden erwachsenen Kinder ihm im Haus Gesellschaft leisteten, David und Veronica.? Adam z?gerte. ?Die zwei wirkten genauso sonderbar. Veronicas Sohn war etwa so alt wie Jacob, aber keines der Kinder in der Gegend gab sich mit ihm ab oder sah ihn überhaupt, au?er wenn er allein auf dem Hof spielte. Elijah hie? er und war geistig ein wenig zurückgeblieben, weshalb er Heimunterricht bekam. Ich denke nicht, dass er irgendwie gest?rt war, du wei?t schon … autistisch vielleicht, aber ist auch egal. Jedenfalls zogen Veronica und David zu ihrem Vater und betreuten ihn, bis er starb.?

Adam zog kr?ftig an der Zigarre und nahm sie dann aus dem Mund, um die rot glühende Spitze zu betrachten. ?Elijah ertrank letzten Sommer im See hinter eurem Haus. Deshalb sind Veronica und David so eilig fortgezogen und haben das Haus in einem erb?rmlichen Zustand zurückgelassen. Sie mussten diese H?lle verlassen.?

Ich bekam feuchte H?nde und brachte keine Antwort heraus.

?Die Treppe im See hast du vermutlich bemerkt. Diese, die aus dem See kommt.?

Ich nickte. ?Wozu ist sie??

?Ist ein alter Pier für Angler. Vor ein paar Jahren wurde er bei einem Sturm aus der Erde gerissen und trieb hinaus. Niemand wei?, wem sie geh?rte, also machte man keine Anstalten, sie wegzur?umen. Im Sommer treffen sich die Kids aus der Nachbarschaft dort, benutzen sie als Sprungturm oder was auch immer. Letzten Sommer spielte Elijah dort.? Adam zuckte wieder mit den Achseln. Wir h?tten genauso gut übers Wetter oder die miese Wirtschaftslage reden k?nnen. ?Nachdem wir den Vorfall mehrmals durchgespielt hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass er mit dem Kopf aufgeschlagen und ertrunken war.? Seine Stimme klang nun unheimlich monoton, als bemühe er sich verbissen darum, einen gleichgültigen Eindruck zu hinterlassen. ?Jemand h?tte ihn beaufsichtigen sollen.?

?Um Himmels willen, warum hast du mir nichts davon erz?hlt??

?Weil ich euch die Freude am Umzug nicht verderben wollte. Ich w?re untr?stlich gewesen, h?tte ich euch mit dieser makabren Sache belastet. Das Haus ist hübsch, die Nachbarn sind angenehm, und was mit dem kleinen Jungen geschah, braucht euch nicht zu interessieren. Ich wei? ja, wie du tickst.? Mit dem abschlie?enden Seufzer klang Adam wie ein Hundertj?hriger.

Erneut dachte ich an unseren Vater. Ich dachte daran, wie er mich nach Kyles Bestattung mit seinem Gürtel verprügelt hatte und dann in sein Arbeitszimmer gegangen war. Ich hatte sein lang gezogenes, lautes Schluchzen durch die geschlossene Tür geh?rt.

?Was meinst du damit, du wei?t, wie ich ticke??

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