Die Treppe im See(24)
Drau?en w?lzte sich der Verkehr vor und zurück, wie Ebbe und Flut. Das Licht der Stra?enlaternen schillerte in den Regentropfen an den Fensterscheiben.
?Hinter unserem Haus verlief ein Fluss zur Bucht. Im Sommer schwammen wir immer darin.?
Ich hielt inne und lie? melancholisch die Gedanken schweifen, und Jodie umarmte mich inniger. Auf dem Schreibtisch lag ein P?ckchen Marlboro. Ich stand auf und nahm es zusammen mit einem Briefchen Streichh?lzer mit vors Fenster. Das widerspenstige Ding klemmte, weshalb ich es erst mit etwas Verz?gerung ?ffnen konnte; die Luft, eine kühle Mittsommerbrise wehte in den stickigen Raum. Halb aus dem Fenster gelehnt, inhalierte ich tief. Jodie hatte verzweifelt versucht, mir das Rauchen auszureden, und ma?regelte mich zu jeder Gelegenheit. In jener Nacht aber machte sie keine Bemerkung dazu.
?Damals im Sommer ertrank Kyle im Fluss?, schilderte ich kurz und bündig. Irgendwie zwischen dem aus dem Bett steigen und dem Zigaretten anzünden, hatte ich mich dazu entschlossen, Jodie nicht jedes Detail zu erz?hlen – was ich an jenem Tag getan beziehungsweise unterlassen hatte. Es war unn?tig, zumal ich sowieso nicht glaubte, es erl?utern zu k?nnen. (Nur einmal im Leben hatte ich es erz?hlt, und zwar Detective Wren, und das genügte voll und ganz. Mit dreizehn war es mir laut über die Lippen gekommen, danach nie wieder.)
Leise hauchte Jodie: ?Nein.?
Ich warf den Zigarettenstummel aus dem Fenster und verriegelte es wieder. So sehr ich fror, so taub fühlte sich mein Gesicht an. Da bemerkte ich, dass ich geweint hatte, und die Tr?nen brannten auf meinen Wangen. Ich wischte sie weg, tappte zurück ans Bett und schlüpfte unter die Decken.
?Jetzt wei?t du es?, schloss ich einfach, als sei damit alles gesagt.
?Alles okay mit dir??
?Ja.?
?Warum hast du es mir nicht schon früher erz?hlt??
?Wei? nicht.?
?Du h?ttest es mir erz?hlen sollen.?
?Natürlich?, erwiderte ich, obwohl ich ihr kaum zuh?rte.
?Falls du je wieder darüber sprechen willst: Ich bin da und h?re zu.?
?Danke, aber wirklich, mir geht es gut.?
?Denk einfach daran, Baby.?
?Werde ich.?
?Mein Baby.?
?Ja.?
Und das war alles, was ich Jodie je darüber erz?hlt hatte.
Jodie bereitete Tacos und mexikanischen Reis zu. W?hrend ich den Tisch deckte, legte ich eine CD von Eric Alexander ein und ?ffnete eine Flasche Chateau Ste. Michelle. Obwohl der Handabdruck im Keller nach wie vor wie ein Symbol des Verh?ngnisses über mir schwebte, wollte ich verhindern, dass meine Frau dachte, ich h?tte den Verstand komplett verloren, also zündete ich sogar Kerzen an und setzte meine Feiermiene auf, als wir Platz nahmen. Zu meiner überraschung war der Abdruck zu einer vagen Sorge ganz hinten in meinem Oberstübchen geschrumpft, als Jodie mitten in der Rekapitulation ihres Nachmittags steckte. Eine Stunde und mehrere Gl?ser Wein sp?ter war ich davon überzeugt, dass ich alles darüber vergessen konnte.
?H?r mal, wir haben oben das perfekte Büro, benutzen es aber im Moment nur als Abstellkammer?, sagte Jodie, legte die Gabel nieder und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. ?Wir k?nnten meinen Laptop dort aufstellen statt auf dem Wohnzimmertisch, und dein Schreibkram lie?e sich von dort aus auch leichter organisieren. Au?erdem brauche ich einen Platz, wo ich meine Dissertation in Ruhe zu Ende bringen kann, und du willst bestimmt nicht für den Rest deines Lebens auf dem Sofa schreiben, oder??
Ich hatte wohl auch auf dem Sofa nicht viel geschrieben, aber egal. ?Gib mir ein paar Tage, und ich richte uns ein gemütliches Büro ein. Arbeitest du morgen??
?Ja. Du solltest mal am Campus vorbeischauen. Sie haben dort eine nette Bibliothek.? Sie l?chelte unschuldig; eine Sekunde lang erschien sie mir so, wie sie als kleines M?dchen ausgesehen haben mochte. ?Wir k?nnten dort zusammen zu Mittag essen.?
?Wie lange dauern die Winterkurse??
?Nur ein paar Wochen, aber pass auf.? Sie stellte ihr Weinglas ab. ?Ich wollte etwas mit dir besprechen.?
Ich zog die Augenbrauen hoch. ?Schie? los.?
?Im Frühjahr schreiben sie eine Vollzeitstelle aus, und ich spiele mit dem Gedanken, mich zu bewerben.?
?Lehrt?tigkeit??
?Ich wei?, es klingt verrückt, und ich habe auch nicht sechs Jahre lang auf die Promotion hingearbeitet, nur um in den H?rs?len h?ngenzubleiben.?
?Wenn du aber Doktorin bist … Du wolltest doch in einer Klinik arbeiten.?
?Ich wei?. Ich wei?.? Sie lachte und stützte ihr Kinn mit einer Hand. ?Das Lehren bereitet mir gro?en Spa?. Ich liebe die Kinder. Ich liebe die Studenten.?
Die Unterhaltung n?herte sich gef?hrlich nahe dem Streitthema – Jodies Wunsch, Nachwuchs zu zeugen. Kurz spürte ich Wut auflodern, weil es mir wie ein passiv-aggressiver Versuch vorkam, das leidige Thema erneut zur Sprache zu bringen – Ich liebe Kinder. Ihr aufrichtig zufriedener Gesichtsausdruck aber erstickte das Gefühl im Keim. Ihre Augen funkelten wie Edelsteine im Kerzenlicht.
?Na ja?, sagte ich. ?Wenn dir der Sinn danach steht …?
?Du meinst also, du h?ttest kein Problem damit??
?Wieso sollte ich ein Problem damit haben??
?Ich dachte, nachdem ich so lange die Schulbank …?
?Du musst deinem Herzen folgen. Falls du deine Meinung mit der Zeit ?nderst, kannst du immer noch zurückschwenken und in einem Krankenhaus arbeiten. Rechnest du mit ernsthaften Chancen auf den Posten??
?Oh ja?, betonte sie beinahe atemlos. ?Durchaus.?
?Verdammt?, erwiderte ich, ?dann hol ihn dir.?