Die Treppe im See(27)
Ich ging vor der blauen Kiste in die Hocke, die nicht gr??er war als ein Farbeimer, und entfernte den Deckel ohne viel Aufwand. Es hei?t, der Geruchssinn sei am st?rksten ans Erinnerungsverm?gen gekoppelt, und in diesem Moment zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass dies stimmte. Es duftete nach Sp?nen von Zedernholz, nach Hamsterstreu und getrockneten Brettern, ganz schwach auch nach Kunstharz. Indem ich dieses Gemisch einatmete, fühlte ich mich in meine frühe Kindheit zurückversetzt, als die H?lle nach dem Tod meines kleinen Bruders noch in weiter Ferne gelegen hatte.
In dem blauen Kasten lagen bunte Holzbaukl?tze verschiedener Form und Gr??e, wie ich sie ebenfalls besessen hatte, als ich klein gewesen war. Als meine Mutter sie im Rahmen eines Garagenflohmarktes verkaufte, hatten sie zahlreiche Dellen und Kerben davongetragen beziehungsweise weitgehend ihre Farbe verloren. Diese Kl?tze hingegen sahen brandneu und quasi unbenutzt aus. Ich nahm einen heraus und hielt ihn an meine Nase. Der bittersü?e Geruch meiner Kindheit.
Wie mir Adams Bericht über Elijah Dentman wieder einfiel, wusste ich, dass ich in Elijahs Zimmer stand. All diese Dinge hatten ihm geh?rt. So h?sslich dieser kleine Kerker anmutete, hatte er hier geschlafen, gespielt und sein Nachtgebet gesprochen.
Kalter Schwei? perlte von meinen Nacken hinab. Mein Mund trocknete aus. Was waren das für Eltern, die ihr Kind hinter einer Kellerwand versteckten? Ein Zimmer ohne Fenster, ohne natürliches Licht?
Unvermittelt kam mir die Weihnachtsfeier bei Adam in den Sinn, als ich mich am Buffet mit Ira Stein unterhalten hatte. Klar und deutlich h?rte ich ihn sagen: Die Dentmans waren eine recht eigentümliche Familie, wie Sie vielleicht schon erfahren haben. Nicht dass ich schlecht über diese bedauernswerten Leute sprechen m?chte, vor allem nach dem, was ihnen passiert ist.
?Du solltest runterkommen und dir das ansehen?, forderte ich Jodie gleich nach ihrer Rückkehr auf. Es war halb sechs und vorzeitig finster geworden. Ich hatte den ganzen Tag mit dem Durchsuchen von Elijah Dentmans Sachen verbracht.
Jodie sah müde aus, als sie ihre Bücher und Tasche auf dem Küchentisch ablegte. Sie be?ugte mich wie jemanden, der ihr in einer dunklen Gasse auflauerte, w?hrend sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank nahm. ?Erz?hl mir nicht, du hast noch mehr Handabdrücke an den W?nden entdeckt.?
Es klang keine allzu subtile Verurteilung in ihrer Stimme.
?Besser?, antwortete ich.
?Hast du dich heute geduscht? Du siehst richtig brutal aus.?
?Komm schon?, sagte ich und machte mich auf den Weg den Flur hinunter Richtung Kellertür. ?Sieh es dir mal an.?
Sie folgte mir.
?Hier lebte mal ein kleiner Junge?, erkl?rte ich von unten hinauf, w?hrend Jodie matt die Stufen herabstieg. ?Elijah hie? er. Seine Mutter und ihr Bruder brachten ihn mit, als sein Gro?vater erkrankte.? Dass der Knabe im See hinterm Haus ertrunken war, sparte ich bewusst aus. Als sie den Fu? der Treppe erreichte, ergriff ich ihre Hand und führte sie eilig zur Geheimtür. ?Du wirst es nicht glauben, aber ich sch?tze, ich habe das Zimmer des Jungen gefunden.?
Wir standen Schulter an Schulter in der Wand?ffnung zu Elijah Dentmans Raum wie ein Paar an einer U-Bahn-Haltestelle. Ich lachte, weil mich dieser nahezu arch?ologische Fund nach wie vor verblüffte, und trat schlie?lich erneut ein, indem ich die Kisten umging, die ich nach dem Sichten willkürlich verstreut stehen gelassen hatte.
Jodie verharrte am Eingang. Ihre Miene zeugte von vollkommener Verst?ndnislosigkeit. Nein, nicht blo? das, sondern vor allem Fassungslosigkeit. Flüchtig wollte ich mir weismachen, dass ich ?hnliche Szenen in meinen Büchern wirklichkeitstreu ausgearbeitet hatte.
?Sieh dir dieses Loch an?, sprach ich. ?Die haben das arme Kind hier wie einen Gefangenen gehalten.?
Langsam hob Jodie eine Hand und hielt sich den Mund zu. Ihr Teint hatte die Farbe saurer Milch angenommen.
?Es war, als h?tte ich einen Luftschutzbunker ausgehoben oder eine Zeitkapsel, oder irgendetwas nach einem nuklearen Holocaust.?
?Wie … hast du das gefunden??
?Im Weg stand ja nichts weiter als die Gipswand. Ich drückte dagegen, und sie sprang wie die Grabkammer irgendeines verwunschenen Pharaos auf.? Ich winkte sie herein. ?Komm und wirf einen Blick hierauf.?
?Nein.? Sie bewegte sich nicht von der Stelle.
?Wieso??
?Komm raus. Das gef?llt mir nicht.?
?Wovon redest du? Ist das nicht total irre??
?Genau, das ist es.?
Ich tippte die Plastikkiste, in der das Holzspielzeug lag, mit dem Fu? an. ?Als ich klein war, hatte ich die gleichen Baukl?tze.?
?Sch?n für dich. Jetzt komm da bitte raus.?
Wie ich sie vor der Tür beziehungsweise Wand sah, kam sie mir mit einem Mal meilenweit weg vor, als schwebe sie in einer anderen Dimension.
Ich beobachtete sie auf der anderen Seite des Eingangs – eigentlich an der anderen Seite der Wand –, und wegen der ganzen Distanz zwischen uns, hatte ich pl?tzlich das Gefühl mich in einem alternativen Universum zu befinden. Es war nur tempor?r und als es sich verabschiedete ging ich zu ihr und rubbelte ihr über die Arme.
Jodie schaute mich an, doch ihr Blick wirkte abwesend und nicht scharf, als bestünde ich aus Rauch, den sie glatt durchschauen konnte.
?Hey?, sagte ich. ?Was ist los mit dir?? Die Antwort d?mmerte mir sofort, und mein d?mliches Grinsen verging. ?Du wei?t von Elijah und dass er hier gestorben ist. Deswegen hast du Schiss. Das ist es doch, nicht wahr??
Meine Worte stie?en sie vor den Kopf – sie hatte von ihm erfahren, aber nicht erwartet, dass auch ich eingeweiht war. Ehe ich ihren Gesichtsausdruck g?nzlich interpretieren konnte, wandte sie sich ab. Er war nicht stark genug, um ihre Gefühle preiszugeben, aber er veranlasste mich dazu, ihre Arme loszulassen.