Die Treppe im See(29)
Besagter Parallelen wegen und weil ich nicht wusste, wie Elijah Dentman ausgesehen hatte, verpasste ich meinem fiktiven Jungen Charakterzüge von Kyle – schm?chtig und hellhaarig, mit goldigen Augen und langen Wimpern sowie rotbraunen Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Als einziger Flachsschopf war er das schwarze Schaf der Familie gewesen. Ich schrieb fieberhaft und war nach jeder Sitzung zwar ausgelaugt, aber umso begeisterter.
Eines Nachmittags, als Jodie wieder einmal mit Beth unterwegs war, rief ich Adam an und bat ihn, so schnell wie m?glich herzukommen. Er erschien in seiner blauen Polizeiuniform mit der Mütze in den H?nden auf der Terrasse. In der Uniform sah er doppelt so st?mmig aus, zumal die Schutzweste unterm Hemd seine Brust rund wie ein Whiskeyfass wirken lie?.
?Was um alles in der Welt ist denn so dringend? Du hast ja am Telefon kaum Luft gekriegt.?
Ich führte ihn nach unten in das Zimmer.
?Verdammte Schei?e.? Adam bekam den Mund nicht mehr zu. ?Machst du Witze?? Wie Jodie blieb er auf der Schwelle stehen, als hindere ihn eine unsichtbare Barriere am Eintreten.
Abends packte mich einmal mehr der Drang, etwas zu Papier zu bringen. Aber ich war es leid, mit Stift und Block auf meinem Scho? auf der Couch zu sitzen. So fuhr ich einen Stuhl mit Rollen, den ich neben weiteren überbleibseln im Keller entdeckt hatte, in Elijahs Zimmer direkt vor den Schreibtisch, und nachdem die H?he soweit bequem eingestellt war, schlug ich meinen Block auf und fing wie im Wahn zu schreiben an.
Dabei entstanden Zerrbilder von Tooey Jones, Ira und Nancy Stein sowie Szenen von Adams Weihnachtsfeier, nicht zu vergessen das Kellerschlafzimmer hinter der Wand. Ausführlich beschrieb ich das halb versenkte Treppengerüst im See. Und natürlich Elijah Dentman selbst, meine Hauptfigur und tragische Gestalt, den bedauerlichen Buben, den man in einer regelrechten Untergrundzelle festhielt. Was für ein Kind war er? Wie entwickelte sich ein Zehnj?hriger, verwahrte man ihn in einem Keller? (Als mir der Schuhkarton mit den verendeten V?geln wieder einfiel, wurde mein K?rper taub wie im Fieber.)
Vorerst hatte ich die Schreibblockade überwunden und befand mich auf einem H?henflug in Bausch und Bogen. Unter mir blinkten Lichter, ein Geflecht umtriebiger Verkehrswege, und ich stieg immer h?her.
Als ich den Stift endlich niederlegte, schmerzte meine Hand, und am Zeigefinger tat sich eine ansehnliche Blase auf. Der Text in meinem Notizbuch hingegen las sich wunderbar flie?end, und die Beschreibungen waren sehr ausführlich geraten. Was mir jedoch abging, war eine eigentliche Geschichte. Ich wusste zu wenig über die Dentmans, als dass ich ihr Leben akkurat h?tte wiedergeben k?nnen. So zw?ngte ich meinen kleinen Jungen in ein Kellerversteck, ohne zu begreifen, was ihn dorthin gebracht hatte. Wer war Elijah? Wer waren die Dentmans?
Ich musste es herausfinden.
Kapitel 12
Als ich in der ?ffentlichen Bibliothek Westlake ankam, war es gerade erst Viertel nach elf. Eisengraue Wolken zogen am Horizont auf und verhie?en neuen Schnee.
Das Geb?ude wirkte plump und besa? eine Ziegelsteinfassade, stand an der Kreuzung zwischen Hauptstra?e und Glasshouse Street im Schutze dichtgedr?ngter Ahornb?ume, die ohne Bl?tter spindeldürr anmuteten. Drinnen war es totenstill. Wie immer, wenn ich eine Bücherei aufsuchte, begab ich mich in den G-Bereich und fand ein einzelnes, zerfleddertes Exemplar meines Romans Silent River zwischen den anderen Einb?nden. Augenscheinlich stammte es aus einer Privatsammlung und war der Bibliothek vermacht worden, denn auf der Innenseite des Umschlags entdeckte ich den Namen G. Kennow.
An der Information l?chelte mich eine ?ltere Dame mit sympathisch gro?mütterlichem Gesicht und Zweist?rkenbrille an. Sie cremte sich gerade die H?nde ein.
?Hi?, grü?te ich. ?Ich würde gern die Archive der Lokalzeitung sichten.?
?Sie meinen die von Westlake, also The Muledeer??
?Ja, das st?dtische Blatt?, sagte ich und dachte, wie gut der Name Maultierhirsch zu einer Gegend wie dieser passte.
?Wie viele Jahre zurück soll es denn gehen? Falls es sich auf etwa zwei bel?uft, befinden sich die Kopien der Ausgaben im Lagerraum. Was darüber hinausgeht, liegt als Microfiche vor.? Im entschuldigenden Ton fügte sie hinzu: ?Ich wei?, dieses System ist ein wenig veraltet, selbst hier drau?en am Stei?bein des Teufels, aber die Bibliothek kam bislang nicht dazu, alle Daten auf Festplatte zu transferieren.?
?Nicht schlimm?, beschwichtigte ich.
Obwohl niemand zugegen war, der uns h?tte belauschen k?nnen, beugte sie sich über den Tisch und wisperte verschw?rerisch: ?Um ehrlich zu sein, mag ich keine Computer. Ich traue den Dingern nicht; zu viele Tasten, und zu viel, was schiefgehen kann. So oder so bin ich eine alte Frau und werde in diesem Leben weder Tango noch Two-step lernen, wenn Sie verstehen, was ich meine.? Sie grinste, wobei ihre gepuderten Wangen err?teten. ?Um Gottes willen, ich h?re mich bestimmt wie ein perfekter paranoider Schwachkopf an.?
?überhaupt nicht?, erwiderte ich. ?Ich selbst schreibe auch nach wie vor alles von Hand. Au?erdem glaube ich nicht, dass ich auf Microfiche zurückgreifen muss, weil ich etwas aus dem letzten Sommer suche.?
?Na dann?, antwortete sie, ?brauchen Sie das Einhorn.?
Ich blinzelte. ?Das was??
Die Bibliothekarin kramte in einem Schuhkarton herum, den sie unterm Tisch hervorgezogen hatte, und reichte mir ein Schlüsselbund, an dessen Kette ein Gummieinhorn baumelte. Die Farbe war verblasst, und am Hintern schien etwas Bissspuren hinterlassen zu haben. Der kleine Anh?nger h?tte durchaus hundert Jahre alt sein k?nnen.