Die Treppe im See(12)



Ich kam n?mlich w?hrend der Weihnachtsferien, und Mutter hatte die Diele ein wenig festlich geschmückt. Adam und ich waren sowohl alt als auch arrogant genug, um Abscheu voreinander zu hegen. Ich redete mir st?ndig ein, er müsse mich doch ansprechen – beispielsweise Entt?uschung darüber bekunden, dass ich feige weggelaufen war, oder seinem Hass Ausdruck verleihen, weil sich Mutter meinetwegen fast zu Tode gesorgt hatte –, aber nichts dergleichen. Er sagte w?hrend der ganzen Ferien kein Wort. Eines frühen Morgens fuhr er mit unserem Vater im Chrysler los, als die Schule wieder begann.

Durch das Fenster beobachtete ich, wie er das Haus verlie?. Mein Gesicht brannte und war rot vor Hitze. Die Augen gingen mir beinahe über. Adam spielte Football, bekam gl?nzende Zeugnisse und wollte Polizist werden. Ich hatte unseren jüngeren Bruder get?tet und die letzte zarte Bande, die die Familie noch zusammenhielt, war mit emotionalem Ballast zum Zerrei?en gespannt. Was h?tten wir einander schon erz?hlen k?nnen?

Es ist ein Kommen, sagte mir mal ein Therapeut, und Gehen. Du treibst ziellos umher, Travis. Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen. Was notierst du eigentlich st?ndig auf diesen Bl?cken?

Ein Kommen und Gehen.

Weil mir der Gedanke, ein Dasein als Obdachloser zu fristen, nicht schmeckte, drückte ich zwei Jahre lang die Schulbank auf einem College zur Berufsvorbereitung, wobei ich mich ungef?hr mit der Begeisterung eines Zombies ans Lernen machte. überraschenderweise erhielt ich gute Noten.

Immerhin erntete ich dadurch verhaltenes Lob von meinem Vater, der ja gewisserma?en selbst ein Zombie war und sich daraufhin anschickte, mir zwei weitere Jahre an der Universit?t Towson zu finanzieren. Ich war nicht mit dem Herzen bei der Sache, bekam aber gute Noten und schloss am Ende mit Vorzug ab.

(Was Towson angeht, erinnere ich mich nur an n?chtelanges Saufen mit meinem Mitbewohner, einem unverhohlenen Homosexuellen mit blaugef?rbtem Stachelkopf und üblem Mundgeruch. Au?erdem muss ich Stunden kotzend auf dem Klo verbracht haben, bis ich dachte, mein Kehlkopf trudle irgendwo im Abflussrohr herum. Ich ging mit Hausschuhen zum Unterricht und trug quasi die ganze Woche lang ein und dasselbe stinkende Sweatshirt. Die Liberalen stilisierten mich deshalb zur geplagten Dichterseele hoch, w?hrend ein paar relativ ansehnliche, wenn auch nicht sonderlich gepflegte Girls von der Hochschule der freien Künste Bettgymnastik mit mir betrieben; eine von ihnen wurde schlie?lich lesbisch, wenn ich mich nicht irre.)

Irgendwann erreichte ich im Zuge all dessen einen Punkt, an dem ich halbwegs zufrieden war. Auf den besagten Bl?cken hielt ich übrigens Dutzende Erz?hlungen fest. Als ich das College verlie? und der Doppelhaush?lfte in Eastport für immer den Rücken kehrte, schrieb ich ein paar davon um und bemühte mich um eine Ver?ffentlichung.

Wie hatte es F. Scott Fitzgerald einmal in einem Brief ausgedrückt? Literatur sei gut, so man beim Lesen glaube, untergetaucht zu sein und den Atem anzuhalten. Nun, für mich war das stimmig. Ich hatte The Ocean Serene geschrieben, einen Roman über Kyle, und brachte ihn ebenfalls bei einem Verlag unter. Das geschah zu der Zeit, als ich in Georgetown wohnte und Jodie traf, und zum ersten Mal seit Langem sah ich einen Silberstreif am Horizont. Das Schreiben war nicht nur eine Therapie, es war eine Absolution. Endlich konnte ich meine Geister ruhen lassen. (Schlaf, alter D?mon, auch wenn ich wei?, dass du immer noch hungrig bist!)

Mit Adam klappte es auf pers?nlicher Ebene mittlerweile auch einigerma?en, falls man nicht sogar von einer normalen Beziehung sprechen konnte. Jedenfalls telefonierten wir regelm??ig miteinander.

Kyle war stets eine unausgesprochene Pr?senz im Raum, wenn wir zu seltenen Gelegenheiten zusammenfanden. Als Adam Beth heiratete, war ich sein Trauzeuge. Ich besuchte ihn nach der Geburt seiner Kinder. Zusammen trugen wir Vater nach seinem kurzen Kampf gegen den Krebs zu Grabe und Adam wurde im darauffolgenden Jahr mein Trauzeuge. Die Stimme meines verfluchten Therapeuten jedoch hallte unterdessen st?ndig in meinem Kopf wider: Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen – und weil ich diesen sprichw?rtlichen Anker nie geworfen hatte, traf ich schlie?lich auf einen Eisberg in der Nacht von Mutters Beerdigung.

Ich hatte zuvor eine Menge Alkohol getrunken und war im Nachhinein ohnehin geneigt, die Feierlichkeiten m?glichst zu vergessen, weshalb ich mich heute nur noch bruchstückhaft daran erinnere, was zwischen Adam und mir vorfiel. Dieses Bisschen genügt jedoch, um mir zu wünschen, es für immer ausblenden zu k?nnen.

Es ereignete sich im Haus meines Bruders. Nicht nur ich, sondern auch er hatte getrunken, obschon allein ich deshalb angeschlagen war. So konnte ich den Mund nicht halten und machte eine dumme Bemerkung, von wegen drei Fünftel unserer Sippe seien tot und unter der Erde, ehe ich mich zu Adam umdrehte, ohne dass er mich provoziert h?tte, und mich für Kyles Tod verantwortlich machte. Er blieb sprachlos und konnte nur den Kopf schütteln, aber ich machte weiter, bis ich laut gr?lte. Ich hatte unseren Bruder ja tats?chlich auf dem Gewissen und wollte – musste einfach h?ren, dass Adam mich dessen bezichtigte. Stattdessen aber kam er auf mich zu und umarmte mich. Doch mein getrübter Verstand sah diese Umarmung als Bedrohung und ich schwang meine tollpatschige Faust in sein Gesicht und traf sein Auge.

Jodie und Beth schrien gleichzeitig auf. Ein Teller zerklirrte am Boden, was wie aus einer anderen Dimension an mein Ohr drang. Ich setzte nach, diesmal jedoch berechnender, und spürte sogar trotz meiner dem Alkohol geschuldeten Benommenheit, wie meine Fingerkn?chel auf das Kinn meines ?lteren Bruders trafen. Dann aber traf seine Faust auf mein Gesicht, und zwar mit solcher Wucht, dass ich zu Boden ging. Ehrfurchtgebietend wie Vater baute er sich vor mir auf, was ich nur durch einen Tr?nenschleier wahrnahm.

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