Die Treppe im See(10)



An der hinteren Wand steht betont würdevoll eine Menschentraube in einer Kleidung, die sie unsinnigerweise für ihre f?rmlichste halten, und pendeln unbehaglich von einem Fu? auf den anderen. Die M?nner mit unbeholfen gescheiteltem Haar, eingefettet und nach hinten gek?mmt. Die Handfl?chen der Frauen mit halbmondf?rmigen Einkerbungen übers?t, weil sie verbissen die F?uste ballen. Ihre Frisuren sind aus der Mode, und die Tatsache, dass ihnen das nicht auff?llt, weist sie allzu deutlich als bornierte Kleinst?dter aus. Das sind die Leute meiner Mutter, die aus Amerikas Vororten stammen und endlich zu dieser Gelegenheit in der Metropole zusammenkommen, der Welt meines Vaters.

Gegenüber im Saal steht eine Art breite Bühne, einzelne Pulte und B?nke aus Teak mit fleckigen Korduan-Polstern. Das Holz ist erst kürzlich mit Schellack gewachst worden. Dort sitzen eine Menge Leute oder stehen dichtgedr?ngt im Hintergrund, als wollten sie sich gegenseitig W?rme spenden. Für die Erz?hlung genügt es, wenn ich mich auf vier Personen beschr?nke, denen wir uns eingehender widmen werden: Zuerst ist da der Vater, ein Mann mittleren Alters mit leerem Blick und Falten im Anzug, die seinen Gram widerzuspiegeln scheinen; die Mutter hat offenbar ebenfalls Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren und ihre Augen überhaupt auf irgendetwas zu fokussieren, obwohl sie verbissen vor sich hinstarrt. Bleiben noch die beiden heranwachsenden S?hne des Paares, von denen der dreizehnj?hrige Junge mit den abstehenden Ohren und fahrigen H?nden besonders auff?llt.

Er sucht den Blick seines Vaters. Sein Mund ist ausgetrocknet, er hatte nicht bemerkt, dass er die Schlaufe, an welcher der Plastikknopf seines Blazers befestigt war, aufgemacht hat, weshalb er den Knopf nun krampfhaft mit dem rechten Daumen und Zeigefinger festh?lt. Just bevor er ihn an seine Lippen führt, zuckt seine Hand wieder, und der Knopf f?llt auf den Teppich.

Er merkt, dass niemand unter den Trauernden dieses Malheur aufgefallen ist, au?er ihm selbst. Irgendwie empfindet er dies als tr?stlich, als verhei?e es ein sicheres Versteck weit weg von allen Menschen – selbst seinem Vater, seiner Mutter, seinem ?lteren Bruder sowie dem kalten Leib des jüngeren, dem Kleinsten der Familie, der vorne im Sarg aufgebahrt liegt. Schaut er nun hinüber in die ausnahmslos steifen, stoisch starrenden Gesichter, fürchtet er sich nur geringfügig weniger.

Es ist ein Kommen und Gehen auf dieser Welt.

Im Laufe der Monate nach Kyles Tod wurde ich missmutig und verschlossen. Zun?chst mutete es nicht au?ergew?hnlich an, dass ich mich vor lauter Kummer von Adam und auch von meinen Eltern zurückzog, aber selbst wenn es noch schlimmer geworden w?re, h?tte es niemand aus der Familie in der allgemeinen Stimmungslage bemerkt. Nicht dass sich Mutter und Vater zunehmend im Elend suhlten und seit Kyles Tod immer weniger ansprechbar wurden; nein, die beiden – seit jeher wohlwollend und warmherzig – vermochten einfach nicht, die Energie und Leidenschaft wiederzufinden, die sie als Eltern ausgemacht hatte, bevor es zu jener schrecklichen Trag?die gekommen war. Irgendetwas hatten sie verloren und wussten nicht, wie sie es zurückerlangen konnten.

Sie zogen sich in ihrer kleinen Doppelhaush?lfte in Eastport zurück, wie etwas Dunkles im Winterschlaf, oder eine Leiche in ihr Grab. Eine besorgniserregende Kluft hatte sich zwischen den Hinterbliebenen von Familie Glasgow gebildet, und zu der Zeit, da man sie wahrnahm, hatte sie sich derart geweitet, dass man sie kaum mehr schlie?en konnte.

Meine Mutter, einst eine gro?mütige und beseelte Frau, die ihr Leben mehr oder minder genauso wie die vorige Generation fast ausschlie?lich über ein Dasein als handzahme Hausfrau definierte, verschrieb sich der Religion. So schleppte sie mich jeden Sonntag in die Kirche des St. Nonnatus, wo wir auf einer Bank hockten, die nach M?belpolitur roch, und einem Priester zuh?rten, der sich auf der Kanzel über Gottes Gro?artigkeit auslie?. Diese Pilgerg?nge hielt sie über ein Jahr durch. Ob es ihr etwas gebracht hat, wei? ich nicht. Allein dass ich dabei in Mitleidenschaft gezogen wurde, kann ich mit Gewissheit sagen, wenngleich wiederum unklar bleibt, ob dies so beabsichtigt war. Ich fasste es als Bu?e für meine Schuld an Kyles Tod auf, auch wenn ich nie mit Mutter darüber sprach.

Mein Vater, dessen blo?es Auftreten mir seit jeher Respekt eingefl??t hatte, schrumpfte mit jedem Tag weiter, nun da irgendein lebenswichtiges Organ, ein tragender Knochen in ihm zerschlissen war. Er erinnerte mich mehr und mehr an eines jener alten Autos auf Betonbl?cken; auch ihn schien allm?hlich farbloses Unkraut zu überwuchern. Nach Kyles Tod verfiel er dem Alkohol, und diesem gottlosen, selbstzerst?rerischen Pfad folgte er bis zur Endstation Prostatakrebs viele Jahre sp?ter.

In diesen letzten Jahren meiner Erinnerungen an diesen Mann, wurde aus dem einst sportlichen, ausgeglichenen, strengen, mitfühlenden und insgesamt guten Vater und Ehemann ein Bild einer alten Rostlaube an einer Stra?enecke. Selbst jenes Bild vom aufgebockten alten Wagen wurde ihm nicht mehr gerecht. Er entwickelte sich zu einer Karikatur, schwer zu fassen und gestaltlos, zusammengesunken im Sessel vor der Glotze mit einer Flasche Dewar auf dem Beistelltisch daneben und entrücktem Blick, der an einen Anstaltsinsassen denken lie?.

Adam wurde mir schlicht fremd – wie einer von vielen Jungen aus der Nachbarschaft, die ich nicht kannte und nur vage voneinander unterscheiden konnte, wenn ich sie auf dem Schulhof sah. Ein Jemand, der eben auf dem Flur direkt gegenüber wohnte.

Eine kurze Zeit lang hegte ich ein düsteres, gewaltt?tiges Geheimnis: Vogelküken, die ich in ihrem Nest hinterm Schuppen zerquetschte, und auf Klebstreifen gesammelte Ameisen, deren Todeskampf ich bis zum Ende mitverfolgte.

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