Die Treppe im See(2)



?Eine Frage?, meinte er noch.

?Ja??

?Alexander Sharpe?? Dieses Pseudonym hatte ich auf der Titelseite des Manuskripts angegeben. ?Seit wann benutzen Sie diesen Namen??

Am Telefon gelang es mir, einigerma?en zwanglos zu klingen. ?Ich wollte herausfinden, ob Mr. Sharpe bessere Chancen bei Verlagen hat als ich. Ich sch?tze, er hat es.?

Aber das war nicht die Wahrheit.

Ich konnte ihm nicht mitteilen, dass ich mich selbst davon distanzieren musste, obwohl ich gleichzeitig nicht umhinkam, mich daran zu erg?tzen. Es h?tte keinen Sinn ergeben. Ein Fremder schien mir besser dafür geeignet zu sein, die Geschichte meines verstorbenen Bruders zu erz?hlen. Ein Fremder, der nicht einmal existent war. Weil ich zu voreingenommen war. Weil ich mich davon nicht l?sen konnte, und das h?tte bedeutet, dass die Geschichte in ein ekelhaftes Selbstmitleid überging. Das durfte ich nicht zulassen.

Gut sind Bücher nur dann, wenn sie ehrlich sind.

Ich begoss es mit Freunden, die mich mit Gasohol abfüllten und sich bemühten, mich mit irgendeiner Frau in die Kiste hüpfen zu lassen, obwohl ich kurz davor endlich beschlossen hatte, meiner langj?hrigen Freundin Jodie Morgan einen Heiratsantrag zu machen, wenngleich ohne jemandem etwas zu erz?hlen. Danach feierte ich allein mit einer vollen Packung Zigaretten, einer Flasche Wild Turkey und bummelte durch Georgetown. Vielleicht dem Bedürfnis nach Best?tigung wegen fand ich mich in einer der Bars in der Washingtoner Gegend wieder, wo ich in einer Telefonzelle Nummern eintippte. Es l?utete einige Mal, bis mein ?lterer Bruder Adam abhob.

?Ich sch?tze, ich habe gerade ein Buch über Kyle geschrieben?, lallte ich betrunken in die Muschel.

?Gut, das wurde auch verdammt noch mal Zeit, Kumpel?, erwiderte Adam, und ich fühlte mich, als seien mir Flügel gewachsen und als ob ich damit vom Bürgersteig abheben würde.

Gelegentlich ertappte ich mich dabei, wie ich an jenen Sp?therbst dachte, in dem ich wie ein Schlot geraucht und den Tod meines kleinen Bruders literarisch verarbeitet hatte. Ich erinnerte mich daran, wie sich der Wechsel der Jahreszeiten im Buntwerden der Bl?tter angekündigt hatte; stürmisch verregnete N?chte, die nach Sumpf rochen und voller Erwartungen steckten; die Stunden, in denen meine Netzh?ute wegen des strahlenden Monitors litten. Niemals zuvor hatte ich so etwas geschrieben, das mich schlaflos machte und auszehrte. Ich musste sp?t nachts wie ein Zombie in der Gegend herumgeirrt sein und schlitterte knapp am geistigen Kollaps vorbei, w?hrend ich tagsüber meinen Job als Korrektor bei der Washington Post ausübte. (Im übrigen verdiente ich dabei gerade genug, um meinen Vermieter nicht st?ndig auf den Plan zu rufen und stetig genügend Instant-Nudeln beziehungsweise Billigbier im Haus zu haben.)

Eines Abends fand ich mich dem Verkehr ausweichend an der Ecke 14th und Constitution in Downtown D.C., als einsamer Fu?g?nger, der von einem eiskalten Regenschauer erwischt wurde, betrunken und mit klappernden Z?hnen, wie Rumbakugeln, eingerollt vor dem Washington Monument. ?Ich werde dich fressen?, ein Satz, der mir bis heute im Kopf herumirrt, ob vor einer Steinstatue oder zu anderer Gelegenheit. Nachdem ich noch salutiert hatte, machte ich auf dem Absatz kehrt und schritt wieder über den Rasen in die 14th. Wie ich in jener Nacht in meine Wohnung zurückkam, wird für immer ein Geheimnis bleiben.

Das Buch war mein Geschenk an Kyle, es zu schreiben, kam jedoch einer Strafe gleich; die Stunden, die ich vornübergebeugt am Bildschirm verbrachte, um die Geschichte abzutippen, wurden meine Bu?e. Da ich noch nie ein religi?ser Mensch gewesen bin – weder christlichen Glaubens noch anderen Hokuspokus –, konnte ich mich einzig daran aufh?ngen. Blicke ich heute auf jene Zeit zurück, bin ich mir der Strapazen bewusst, die jeden Augenblick pr?gten.

Ich war dreizehn, als Kyle starb.

Und es war meine Schuld.





Kapitel 2




Aus New York heraus, schneite es hier und da ein wenig, aber nachdem wir die Grenze nach Maryland überquert hatten, lag die Welt g?nzlich unter einer wei?en Decke. Baltimore verbinde ich vage mit einer Schmutzlandschaft. Industriebauten und mit Graffiti besprühte Werbetafeln wurden von einer todesgrauen Müdigkeit eingenommen. Knochenwei?e Schlote ragten wie mittelalterliche Gef?ngnistürme empor, ihre Spitzen waren vom Blizzard ausradiert und Autos wechselten in einem Blinkkanon aus verz?gerten roten Bremsleuchten und Lichtern die Spur.

?Wir sollten anhalten, Travis?, bat Jodie. Sie schlang die Arme um ihren Oberk?rper und versuchte, etwas durch die eisige Suppe zu erkennen, die gegen die Windschutzscheibe klatschte.

?Die Fahrbahn ist hier zu eng. Ich will keinen Unfall provozieren.?

?Kannst du denn überhaupt etwas sehen??

Die Scheibenwischer quietschten im steten Rhythmus, wohingegen die Temperatur so tief gesunken war, dass sich stellenweise Eisblumen auf dem Glas gebildet hatten. So zog ich am Hebel für das Frostschutzmittel und der alte Honda begann zu knattern und ?chzen, und dann spie die Motorhaube eine stinkend warme Font?ne aus. Dabei schwang ein Hauch von brennenden Sportsocken mit, der Jodie dazu trieb, in ihrem Sitz st?hnend hin und her zu rutschen.

?Ich hoffe, das ist kein Omen?, sagte sie. ?Ein b?ses Zeichen.?

?Ich bin nicht abergl?ubisch.?

?Das liegt daran, dass du keinen Sinn für Ironie hast.?

?Mach das Radio an?, sagte ich zu ihr.

Der Schneesturm flaute nicht ab, bis wir Charm City als Fleck von gefrorenem Schmutzwasser im Rückspiegel zurücklie?en. Als wir zwei Stunden sp?ter über den verlassenen Highway Richtung Westen tuckerten, brach die Wolkendecke auf und der Mittagshimmel glitzerte silbrig klar. Wir fuhren weiter über eine hügelige Landschaft mit schneebedeckten Feldern. H?user begannen zu schwinden und Telefonmasten wichen zerzausten Tannen, die der Neuschnee beschwerte. Der alternative Rock-Radiosender, den Jodie in Baltimore eingestellt hatte, kratzte und spie lethargische Country-Musik hervor.

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