Die Treppe im See(6)



Adam starrte mich an. ?Was ist passiert?? Die Worte klangen so vorwurfsvoll, dass es mir die Sprache verschlug. ?Was hast du getan??

Erst als Jacob hinter mir auf der Treppe erschien, erkannte ich, an wen Adam die Frage gerichtet hatte.

?Sprich?, forderte Adam.

Jacob zuckte mit den Achseln. Das Kind sah elend aus. ?Maddy hat Angst gekriegt.?

?Angst wovor??

Wieder spannte er seine schmalen Schultern an. ?Irgendwas hat ihr Angst eingejagt. Aber nicht ich. Ehrlich.?

Adam seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch die dichten Locken. ?Komm jetzt runter, Jacob.?

Der Junge hüpfte mit steinerner Miene die restlichen Stufen hinab. Ich folgte ihm, die H?nde in den Hosentaschen. Ich blieb neben Beth stehen und streichelte Madisons Kopf.

Sie wand sich und schlenkerte mit den Beinen. Ihre Mutter grunzte, als sie ihr in den Bauch trat. ?Wirst du wohl aufh?ren?, brummte sie mit dem Mund an Madisons Haar.

?Du hast den See hinterm Haus nie angesprochen?, sagte ich zu Adam.

?Habe ich nicht??

?Und wo ist der Keller??

?Auf dem Dachboden, wo sonst??

?Ha. Sehr witzig.? Ich ging an meinem Bruder vorbei den Flur entlang zu einer Tür, die wir noch nicht ge?ffnet hatten.

Er rief mir hinterher: ?Dort unten steht das Zeug, auf dessen Kisten ihr Speicher geschrieben habt.?

?Danke.? Hinter der Tür führte eine leidlich stabile Holztreppe tief in ein Betongew?lbe, in dem irgendwo Licht brannte. Das Licht warf schmierige Schatten auf die freiliegenden Formsteine der Wand. Ich stieg bis zur H?lfte hinab und sah mittig an der niedrigen Decke eine nackte Glühbirne, die an einem wenige Zoll langen Kabel hing. Die Zugschnur zum Ein-und Ausschalten pendelte wie die Taschenuhr eines Hypnotiseurs.

Am Fu? der Treppe standen einige Kisten. Ich stieg über sie und zog an der Schnur, die abriss und die Birne zum Schwingen brachte. Die Schatten im Raum fingen zu wandern an.

?Verdammt.?

Auf Zehenspitzen griff ich hoch um sie festzuhalten, schaffte es aber nicht, die Schnur zu befestigen, um das Licht wieder auszumachen. Am Ende leckte ich Zeigefinger und Daumen, bis ich es mit einer halben Drehung der Birne dunkel werden lie?.

Das verbliebene Tageslicht nutzten wir, um Kisten durch die Zimmer zu schleppen, M?bel zusammenzubauen und das Bad beziehungsweise die Küche zu schrubben, was uns dabei half, mit der neuen Umgebung warm zu werden.

Nach Einbruch der Dunkelheit waren wir ersch?pft und hungrig. Die Kinder fingen zu quengeln an, weshalb Beth sie nach Hause brachte, beharrlich darauf bestehend, dass wir zum Abendessen vorbeikamen.

Sie hatten einen Wintergarten, den sie zu dieser Jahreszeit beheizten. Dort schlemmten wir uns durch ein rechtes Festmahl: Schweinebraten, ein mit Semmelbr?seln angedickter Brei aus grünen Bohnen, dazu Kartoffelpüree und Maisbrot. Zum Nachtisch servierte Beth, sehr zur Freude der Kids, Apfelkuchen mit Eis und Jodie schenkte Kaffee ein, w?hrend Adam durch den Keller hetzte und einen Portwein suchte, der sich partout nicht finden lassen wollte. Zuletzt musste sich mein Bruder geschlagen geben und mit leeren H?nden zurückkehren. Um seiner Anstrengung Genüge zu tun, schnitt er sich ein extragro?es Stück Kuchen ab.

Beth kam auf meinen jüngsten Roman Waterview zu sprechen, und sie hatte ihn dem Literaturclub in der Gegend vorgestellt. ?Ihr werdet die meisten Mitglieder im Laufe der n?chsten Woche kennenlernen. Ein paar der Leute sind zu einer kleinen Weihnachtsfeier eingeladen. Für euch zwei ist das eine gute Gelegenheit, um eure neuen Nachbarn zu treffen.?

?Bitte, Beth?, sagte ich, ?mach dir keine Umst?nde.?

?Meine Bücherrunde wollte sowieso wieder etwas gemeinsam machen. Also brauche ich nur noch einige weitere Leute zum Dinner zusammenzutrommeln. Das wird bestimmt lustig.?

?Ist eine nette Stadt?, fügte Adam hinzu. ?Sehr freundlich.?

?Kanntet ihr die früheren Bewohner unseres Hauses??, fragte Jodie.

?Die Dentmans?, sagte Adam. ?Wir kannten sie ein wenig, sch?tze ich.?

?Wir kannten sie überhaupt nicht?, berichtigte Beth. ?Sie waren seltsam und blieben unter sich.?

Adam zuckte die Achseln. ?Liebes, wenn man seine Ruhe haben will, bedeutet das noch lange nicht, dass man seltsam ist.?

Beth winkte ab, ehe sie sich Jodie zuwandte. ?Lass dir nichts von ihm erz?hlen. Sie waren wirklich seltsam.?

?Na ja, das Haus war ein Schn?ppchen?, merkte ich an.

?Immobilien sind hier drau?en nicht sehr teuer?, sagte Adam, den Mund voller Kuchen. ?Im Vergleich zum Rest des Staates ist unsere Gegend ein wohlbehütetes Geheimnis. Die Schwachk?pfe in Baltimore wissen nicht, was ihnen hier entgeht.?

?Schwachk?pfe?, wiederholte Madison und kicherte.

?Und?, fuhr er fort, ?es ist der perfekte Ort, um eine Familie zu gründen.?

?Stimmt, Adam?, meldete sich Jodie, ?aber erz?hl das mal meinem Mann. Er scheint das ganze Biologische-Uhr-Ph?nomen nicht zu kennen.?

Ich st?hnte und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. ?Vor einer Woche noch haben wir uns in eine Zweizimmerwohnung ohne Zentralheizung gezw?ngt. Wir mussten jeden Morgen Obdachlose vor der Haustür verscheuchen. H?ttest du Kindern das zumuten wollen??

?Sieh dich um. Jetzt sind wir nicht mehr dort.?

?Hey.? Beth hielt ihr Weinglas hoch. ?Lasst mich einen Toast aussprechen. Ich bin so glücklich, dass ihr zwei hergezogen seid.?

Sie warf mir einen kurzen Blick zu, zu eindringlich, als dass ich es nicht bemerkt h?tte. Jedenfalls glaubte ich, sie wollte, dass ich es mitbekam. ?Auf den Neuanfang.?

?Auf den Neuanfang?, wiederholte Adam.

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