Die Treppe im See(3)
Letztlich schaltete sie ihn ab und betrachtete die Stra?enkarte, die sie auf ihrem Scho? aufgefaltet hatte. ?Wie hei?t das Gebirge dort vor uns??
?Allegheny.?
Nur die schwachen farblosen Gipfel erhoben sich aus dem Nebel, sie glichen einem langen Rücken eines Brontosaurus.
?Herr im Himmel. Westlake ist nicht einmal auf der Karte eingezeichnet.? Sie schaute aus dem Fenster. ?Jede Wette, dass wir die n?chsten zwanzig oder drei?ig Meilen keiner Menschenseele begegnen werden.?
Trotz der heiklen Stra?enverh?ltnisse, lie? ich mich zu einem kurzen Blick auf meine Frau hinrei?en. Mit ihrem kantigen Gesicht, der mokkabraunen Haut und der Wollmütze mit Jacquard-Muster, unter der ihr federndes, schwarzes Haar herausquoll, sah sie pl?tzlich erschreckend jung aus. Erinnerungen an unseren ersten gemeinsamen Winter in der Londoner Nordstadt kehrten wieder, wie wir vor dem Holzofen gekuschelt hatten, weil die Heizung nicht funktionierte, und uns dabei eine gr?ssliche britische Sitcom im Kabelfernsehen angeschaut hatten. London hatte uns zwar nicht übel mitgespielt, aber wir waren froh über die M?glichkeit, wieder in die Staaten zurückzukehren – in meinen Heimatstaat – und unsere eigenen vier W?nde zu beziehen.
Die vergangenen zehn Jahre, in denen wir gerade so über die Runden gekommen waren, hatten sich mit meinem jüngsten Roman Waterview endlich bezahlt gemacht. Die Absatzzahlen schnellten in die H?he, und Hollywood bekundete Interesse an einer Verfilmung. Der Film kam nie zustande, allerdings lie? das Geld für die Option meinen bisherigen Verdienst durch die Verk?ufe l?cherlich wirken, so entschieden wir uns dazu, unsere zugige Wohnung in Kentish Town gegen ein Einfamilienhaus einzutauschen. Daran, wieder in die USA zu ziehen, dachten wir nicht, bis Adam anrief und meinte, er habe ein Haus für uns in seiner Nachbarschaft gefunden. Die Besitzer waren bereits ausgezogen und suchten dringend einen K?ufer. Das Angebot verhie?, dass es schnell gehen sollte. Nachdem Jodie und ich übereingekommen waren, vertrauten wir blind dem Urteilsverm?gen meines ?lteren Bruders und kauften das Anwesen ungesehen.
?Bist du nerv?s??, fragte Jodie.
?Wegen dem Haus??
?Nein, weil du deinen Bruder wiedersehen wirst.? Sie legte mir eine Hand aufs Knie.
?Wir sind miteinander im Reinen?, versicherte ich, wobei ich mich allzu deutlich daran erinnerte, was geschehen war, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. W?re es nicht immer noch so eindrücklich gewesen, h?tte es genauso gut ein Traum beziehungsweise Albtraum sein k?nnen.
?Wir hatten schon lange keine Familie zu Weihnachten um uns herum.?
Ich antwortete nicht, weil sie mich dazu bringen wollte, über die Vergangenheit zu reden.
?Ich vermute, du hast uns irgendwie vom Erdboden verschwinden lassen?, sagte Jodie, dankbarerweise das Thema wechselnd.
?Das muss hier –?
?Da?, unterbrach sie. Aufregung schwang in ihrem Tonfall mit. ?Da unten!?
Im Tal war ein St?dtchen, das aus der Schneedecke zu sprie?en schien. Ich erkannte das Stra?ennetz und die Beleuchtung, die aussah wie Weihnachtskugeln. Zweigeschossige Ziegelbauten und kleine Gesch?fte erhoben sich aneinandergedr?ngt, als wollten sie sich gegenseitig w?rmen.
Die Hauptstra?e zog sich geradewegs durch die idyllische Innenstadt und zu den Bergen, wo in der Ferne einzelne Grüppchen winziger H?user wie Fliegenpilze aus den Feldern ragten. Ein dichter Kiefernwald umgab den Ort, und ich meinte, zwischen den B?umen Wasser glitzern zu sehen.
Jodie lachte. ?Ach, verarsch mich nicht. Das sieht wie eine gottverdammte Modelleisenbahnlandschaft aus.?
?Willkommen in Westlake?, scherzte ich. ?N?chster Halt – Jupiter.?
Ich nahm die Ausfahrt und steuerte den Honda behutsam das eisige Tal hinab. Wir erreichten eine T-Kreuzung und Jodie las den Zettel mit der Wegbeschreibung, den ich ins Handschuhfach gelegt hatte. Wir bogen links ab und waren im Nu mitten in der Stadt, wo wir die Namen der L?den auf uns wirken lie?en – W?scherei Clee und Zippys Auto-Ersatzteile, Video-Guru oder Tonys Musiktempel. Die beiden einfallsreichsten waren ein Friseursalon namens FüR HAARBEHINDERTE und ein Saloon im Wildweststil mit allem Drum und Dran, Schwingtüren und Pferdestange, der TEQUILA MOCKINGBIRD hie?.
Jodie und ich st?hnten gleichzeitig auf.
Dann fanden wir die Waterview Court und folgten der Stra?e, bis sie schlie?lich einspurig wurde. Die B?ume streiften den Wagen zu beiden Seiten.
?Ist es dir aufgefallen??
?Was aufgefallen??, fragte ich.
?Waterview. Das ist der Name deines letzten Buches.?
?Vielleicht noch eines deiner hei?geliebten Omen?, erwiderte ich, ?aber diesmal ein gutes.?
Die Waterview stellte sich als Sackgasse heraus. Beheizte kleine H?user zogen sich entlang der Gasse und ihre D?cher st?hnten unter der Schneelast.
?Da ist er?, deutete ich und h?mmerte zweimal auf die Hupe.
Adam stand dick in eine knallrote Skijacke eingepackt mit Strickmütze und Winterstiefeln mitten auf dem Asphalt. Unter seinem Arm klemmte ein aufgerollter Plastikschlauch, und hinter ihm tollten zwei aufgedunsene Kleckse im Schnee: Jacob und Madison, mein Neffe und meine Nichte.
Strahlend hupte ich ein drittes Mal, dann setzte ich mehrmals zurück und fuhr wieder vor, bis ich am Gehsteig parken konnte. Der Unterboden knirschte, als der Honda über einen Haufen festen Schnee rollte. Jodie stieg aus, noch bevor wir standen. Sie rannte zu Adam und drückte ihn, indem sie einen Arm um seinen Hals legte. Dann gab sie ihm einen kurzen Schmatz auf die linke Wange. Mein Bruder ist sehr gro?, und Jodie reichte ihm gerade bis zur Schulter.
?Hey, Sackgesicht?, rief ich beim Aussteigen. ?Flossen weg von meiner Frau.?