Die Treppe im See(11)



Nach einem verheerenden Unwetter, bei dem auch etliche B?ume und ein Leitungsmast in unserer Gegend umgestürzt waren, hüpfte ein kleiner, brauner Frosch aus einer Dreckpfütze auf der Stra?e. Ich fing ihn ein und trug ihn hinter den Schuppen im Garten. W?hrend das Tierchen in meinen geschlossenen H?nden umhersprang, vermutlich mehrere Stunden, sa? ich auf einem Bündel Feuerholz.

Als ich die Finger schlie?lich ?ffnete und den Frosch freilie?, hüpfte er ins Gestrüpp davon, und mir liefen Tr?nen über die Wangen. Meine Schreckensherrschaft über die kleinen Gesch?pfe in der Umgebung war vorüber … aber es blieb das dumpfe Gefühl von Schuld zurück.

Letztendlich wurde ich zu einem schreckhaft nerv?sen Chaoten, der nicht nur sich selbst unruhig machte, sondern auch die Leute um sich herum. Jeder rechnete damit, dass man mich irgendwann ins Gef?ngnis steckte, was zu mehreren Anl?ssen durchaus gerechtfertigt gewesen w?re. Doch dazu kam es nie. Ich befand mich in einer, wie es ein Therapeut ausdrückte, ?unbestimmbaren Gegenwart?, einer Art st?ndigem Wandel. Stets ver?ndernd, immer weiter entwickelnd. Ich dachte dabei an Raupen, die zu Schmetterlingen wurden, und die glitschigen, fetten B?lge aus Gremlins, die leuchtend grünen Schleim spien.

Ich hatte Angst davor, Kyle würde aus dem Grab zurückkehren. Am Abend seines ersten Todestages war ich fest davon überzeugt, dass er mich holen kommen würde. In jener Nacht fand ich keinen Schlaf; zu angespannt war ich, sa? aufrecht im Bett und wartete darauf, dass er sich barfu? mit triefenden Fetzen am Leib über den Flur schleppte. Dann würde er mein Zimmer betreten, mit Knochenbrüchen, eingeschlagenem Sch?del und einem Teint in gottesl?sterlichem Blaugrün wie Schimmel, der auf Brot w?chst, und der mich nicht mit seinen Augen anstarrt, sondern mit schwarzen, seelenlosen L?chern in seinem Kopf, aus denen schlammiges Wasser an seinem verwesenden Gesicht hinablief.

Er würde mit einem anklagenden Finger zu mir deuten, w?hrend er in meiner Tür stand, in einer Pfütze dunklen Wassers. Du hast mir das angetan, würde er dann sagen. Du hast mir das angetan, Travis. Als mein ?lterer Bruder war es deine Pflicht, auf mich aufzupassen, doch stattdessen hast du mich umgebracht. Jetzt bin ich hier, um dich mitzunehmen – zurück ins Wasser, wo du versinken und auseinanderfallen wirst wie zerbrochenes Glas.

Ich dachte wieder: Du hast mir das angetan. Ein Teil des Selbst stirbt, wenn man seinen Bruder umbringt.

Infolgedessen begann ich, mich nachts in meinem Zimmer einzusperren. Niemand schien sich etwas dabei zu denken, also schwieg man sich aus. W?lzte sich mein alter Herr gelegentlich im Suff aus dem Bett und torkelte ins Bad, schlug mein Herz bis zum Hals, und auf meiner Haut bildete sich ein dünner Schwei?film. Ich war mir sicher, Kyle würde kommen. Erst als ich die Klospülung h?rte, wusste ich bestimmt, dass ich vorerst davongekommen war. Bald aber … bald …

In meinen Tr?umen raste ich durch einen kaleidoskopischen Trichter, in dem mannigfaltige Eindrücke über mich hereinbrachen – von eisigem Wasser dunkel wie der unendliche Raum, von ewiger Schwebe und Angst vor dem Fall, der doch nie erfolgte, vom dumpfen Aufschlag von Knochen auf fester, aber unsichtbarer Oberfl?che.

Ein wiederkehrender Albtraum, in dem ich durch ein Labyrinth aus Lattenzaun, dessen Spalten und Astl?cher im Holz hetzte und st?ndig Blicke auf die Freiheit erhaschte, die dennoch unerreichbar blieb. Zuletzt brach ich ersch?pft zusammen und stellte fest, dass der Boden unter mir nicht mehr fest war, sondern ein blo?es Miasma aus zu Wolken verdichtetem Qualm wie Treibsand. Ich k?mpfte gegen den Erstickungstod an, wusste aber, dass es zwecklos war, und musste mich immer tiefer hineinziehen lassen, allerdings nicht vom Sand, sondern einem Paar H?nde an meinen Fu?gelenken.

Die Leblosigkeit im Haus nahm ebenso zu – einengend, zerrüttend und finster wie der Schlund der H?lle, und ungef?hr so subtil wie ein Steinschlag.

Mit achtzehn zog ich aus, da meine Eltern von Rechtswegen her nicht mehr über mich verfügten. Was folgte, war eine irre Serie von Fehltritten, die besser unausgesprochen bleiben. Die Bekanntschaften, die ich in jener Phase meines Lebens machte, schienen sich zum Vorsprechen für einen miesen Film herausgeputzt zu haben – Lederjacken, Siebziger-Shirts mit weiten Kragen, T?towierungen, teilweise rasierte Sch?del und Piercings an allen m?glichen Stellen und sie misstrauten jedem, der sich nur unmerklich von ihrer Clique abhob – und ich handelte mir eine Menge ?rger ein, auf den wirklich niemand stolz sein sollte. Bei Schl?gereien zog ich mir blaue Augen und nicht nur einen Satz hei?e Ohren zu, vor allem auch eine nicht ungef?hrliche Schnittwunde am linken Bizeps, nachdem ein überempfindlicher Fremder sein Butterfly-Messer aus Reflex über meinen Arm gezogen hatte.

Nachts schlief ich an U-Bahn-Haltestellen auf B?nken, wobei ich hinter jedem mittern?chtlichen Schritt meinen Bruder w?hnte, der kommen musste, um mich zu holen. Du hast mir das angetan. Am Ende jedoch war all dies unerheblich, weil ich in der unbestimmten Gegenwart lebte, eine Raupe in permanenter Transformation, ein Gebirgsbach auf der Suche nach dem gro?en Fluss. Fand ich ihn, gelangte ich auch zum Meer.

Letzteres war, wie sich herausstellte, die St?tte meiner Kindheit, denn ich kehrte binnen weniger Monate Alleinsein auf den Stra?en sichtlich angeschlagen nach Hause zurück. Mutter weinte und empfing mich mit offenen Armen, bevor sie in die Küche eilte und mir eine warme Mahlzeit zubereitete. Vaters Schweigen hingegen war geradezu ohrenbet?ubend. Er be?ugte mich blo? und war nach wie vor trotz der Schw?che, die ihn seit Kyles Ableben heimsuchte, eine imposante Person. Sein Gesichtsausdruck zeugte von ?u?erster, allumfassender Resignation. Adam, der auf dem College gewesen war, als ich Rei?aus genommen hatte, hielt sich bei meiner Rückkehr im Haus auf.

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