Die Treppe im See(9)
?Shit.?
Mein Schuh gab ein Schmatzen von sich, als ich meinen Fu? aus dem frostigen Schneematsch befreite. Indem ich mich an einen Baum lehnte, bemühte ich mich, das Bein meiner Schlafanzughose auszuwringen. Meine Zehen waren bereits taub. Direkt mir gegenüber im See ?ffnete sich die Eisschicht und reflektierte. Die seltsame Struktur darin ragte kerzengerade aus dem Eis und wirkte im schwachen Mondlicht milchig. Erst aus dieser neuen Perspektive wurde mir bewusst, wie gro? sie wirklich war, wobei es sich weder um einen Fels noch um eine Steinformation handelte. Sie war eindeutig von Menschen erschaffen worden.
Vom Ufer aus befand sie sich nur ungef?hr zwanzig Meter weit drau?en und ich musste sie mir einfach genauer anschauen. Wider besseres Wissen trat ich auf die Eisdecke des gefrorenen Sees. Ich prüfte zaghaft, ob mich die Schicht tragen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde zogen Bilder an meinem geistigen Auge vorüber, auf denen ich in schwarzem Wasser versank, gefangen unter dem Eis und nach Luft ringend, bis meine Lungenflügel zu zerrei?en drohten. Ich stellte mir vor, wie ich kurz vor der Ohnmacht nach oben in die Freiheit dr?ngte und verzweifelt mit dem Kopf gegen die gefrorene Schicht stie?, um dem unvermeidlichen Tod zu entgehen.
Aber das Eis schien meinem Gewicht standzuhalten. Ich bewegte mich weiter vorw?rts, wobei ich mehr rutschte als ging, weil ich zu viel Angst hatte, die Fü?e anzuheben.
Beim N?herkommen nahm das Ungetüm Gestalt an: ungef?hr zehn Fu? hoch und vier breit, robust aus verblichenen Brettern gebaut. Sie war geschichtet – schr?g – auf einer Seite.
Es war eine Treppe.
Wenige Fu? davor blieb ich verblüfft stehen.
Eine Treppe erhob sich geradewegs aus dem See.
Die Planken glichen dem Holz, mit dem man eine Veranda baute. Sie waren verwittert und schienen mit frostig wei?em Schimmel überzogen. Die Treppe stand nicht auf dem Eis, sondern erhob sich hindurch, wie Jodie es am Nachmittag vom Schlafzimmer aus richtig abgesch?tzt hatte. Das Eis am Fu? der Stufen war geschmolzen, hinterlie? ein offenes Loch matschig schwarzen Wassers, dass die Konstruktion zwei bis vier Finger breit umgab.
Ich machte einen weiteren Schritt und brach ein.
Mein Atem stockte, und ich h?rte, wie mein Fu? ins Wasser platschte. Schlagartig spürte ich mein Bein bis zur Mitte taub werden. Ich kippte vornüber und konnte den Fall nicht bremsen. Mein Herz schlug unregelm??ig, als ich die H?nde instinktiv ausstreckte und es schaffte, mich am Rand der aufragenden Treppe festzuhalten. Es bewahrte mich davor, tiefer im Eis zu versinken. W?hrend ich mich an das Holz klammerte, kam ich wieder zu Atem. Dann hob ich mein nasses und nahezu gel?hmtes Bein aus dem Loch und richtete mich vorsichtig auf.
Die eisige Nachtluft lie? das Wasser an meinem Bein sofort gefrieren und der dünne Stoff meines Schlafanzugs lag darauf wie eine zweite Haut. Ein frierendes Brennen lief mein Bein herauf bis in den Schritt, und meine Kronjuwelen zogen sich erneut zurück. Mein ganzer K?rper zitterte.
Dummerweise verlor ich das Gleichgewicht und fiel der L?nge nach auf meine linke Seite. Ich fiel unsanft, meine Z?hne schlugen aufeinander. Ich h?rte, wie etwas brach, und wusste nicht, ob es das Eis unter meinem Gewicht war oder meine Knochen. Der Stummel meiner Zigarette flog weg, und ich sah in Zeitlupe, wie die Glut durch die Luft wirbelte. Eiswasser schwappte gegen meine Rippen und meine Arme. Wie im Traum neigte sich der Grund unter mir: Die Oberfl?che war aufgesprungen und brach auseinander.
Ich ?u?erte eine Reihe deftiger Flüche und w?lzte mich auf den Rücken, um dem immer breiter werdenden Spalt zu entrinnen. Selbst beim Rollen h?rte ich es weiter wie ein Holzfeuer knacken.
Ich robbte von der Bruchstelle weg, bis mir mein Gefühl vermittelte, dass ich in Sicherheit war und liegen bleiben konnte. Also tat ich es. Ich hielt die Augen geschlossen, obwohl ich mich gar nicht daran erinnern konnte, sie überhaupt zugemacht zu haben. Rasselnd holte ich Luft, meine Kehle war wie zugeschnürt.
Dann, aus welchen Gründen auch immer, fing ich zu lachen an.
Ich verdammter Irrer.
Ich drehte mich auf die Seite und kroch zum Ufer, dabei bebte ich vor unterdrücktem Gekicher. Sobald ich nahe genug war, griff ich nach einem Ast, der über den See ragte. Als meine Fü?e endlich Halt fanden, zog ich mich hoch und spürte wieder festen Boden unter mir. Obwohl mich keine Menschenseele beobachtet hatte, fühlte ich mich wie ein Schwachsinniger.
Hinter den B?umen vor mir brach ein Zweig.
Ich stockte. Erneut war mir, als ob sich etwas zwischen den ineinander verhakten ?sten bewegte, doch genau sagen konnte ich es nicht. ?Hallo??, rief ich mit zittriger Stimme. ?Ist da wer? Ich k?nnte etwas Hilfe gebrauchen.?
Niemand antwortete. Niemand regte sich.
Ich fixierte die Stelle im Ge?st, ohne etwas zu sehen. Ein Reh vielleicht? Irgendein Waldkriechtier, das durchs Unterholz kroch? Was auch immer, wenn ich weiter darüber nachdachte, fror ich mir den Arsch ab.
Zitternd, wegen der K?lte, die meinen K?rper langsam vom tauben linken Bein aus vereinnahmte, begab ich mich die verschneite B?schung hinauf zurück zum Haus.
Kapitel 5
Es hei?t, die Natur kenne kein Aussterben – wenn man einmal gelebt habe, existiere man ewig, und zwar jeder einzelne Teil des Selbst, ob gesondert oder als Ganzes mit allen anderen. Mag eine dicke Staubschicht auf der Menschheitsgeschichte lasten, so bleibt die Erinnerung dennoch unbescholten.
Man stelle sich einen ger?umigen, quadratischen Konferenzsaal vor, mit blaugrünem Teppich und alabasterner Akustikdecke. Schaut euch um. Ihr bemerkt, dass die B?nke aus Mahagoni unter den hei?en Scheinwerfern glanzlos geworden sind. Herein gelangt man durch zwei breite Doppeltüren mit schr?g angebrachten Messinggriffen, die jemand frisch poliert hat.