Die Treppe im See(4)
?Komm her?, grinste Adam und nahm meine Hand, um mich herzlich in die Arme zu schlie?en. Er roch nach Aftershave und Feuerholz, was mich einen Moment lang zur Nostalgie verleitete. Unser Vater hatte genau so gerochen, als wir noch klein waren und in der Stadt wohnten. ?Mann?, begann er. Sein feuchtwarmer Atem streifte meinen Hals. ?Tut gut, dich wiederzusehen, Bruder.?
Nachdem wir voneinander abgelassen hatten, musterte ich ihn. Er war immer noch kr?ftig gebaut und hatte diesen stechenden, aufgeweckten Blick, der Strenge vermittelte, ohne gleich Charme und Umg?nglichkeit in Zweifel zu ziehen. Dieser Vorzug machte sich auch in seinem Job bezahlt; er war Polizist, wie er es sich schon als Kind ausgemalt hatte. Wie aus heiterem Himmel überkam mich ein Gefühl von Stolz, bei dem meine Knie weich wurden.
?Siehst gut aus?, befand ich.
?Kinder!?, rief Adam über die Schulter.
Jacob und Madison stellten sich links und rechts neben ihren Vater, nachdem sie sich mühselig aus dem Schnee gew?lzt hatten. Sie zupften Handschuhe, Wollkappen und verrutschte Ohrenschützer zurecht.
?Mein Gott, ihr seid aber gro? geworden?, stellte ich fest.
?Erinnert ihr zwei euch noch an Onkel Travis??, fragte Adam.
Ich ging in die Hocke, um ihnen auf Augenh?he zu begegnen.
Madison zierte sich und trat einen Schritt zurück. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch ein Baby, so hegte ich wenig Hoffnung, dass sie sich noch an mich erinnerte.
Jacob schnitt eine Grimasse und nickte mehrmals. Er war schon zehn und forscher als sie. ?Ich erinnere mich. Du hast in einem anderen Land gelebt.?
?In England, ja.?
?Sprechen die da eine andere Sprache??
?Sie sprechen dieselbe Sprache wie du, alter Junge ?, sagte ich in meinem bestem Cockney-Akzent. ?Und au?erdem haben die sie wohl erfunden.?
Jacob lachte.
Das ermutigte Madison und sie schritt vorw?rts, l?chelnd über meine Bl?delei oder weil ihr Bruder darüber lachte.
?Hast du uns etwas aus England mitgebracht??, fragte Jacob.
Madison machte gro?e Augen.
?Hey?, schimpfte Adam. ?Das geh?rt sich nicht.?
Jacob schaute nach unten auf seine Boots. Madisons Augen lie?en nicht von mir ab – in der Hoffnung, sie werde bekommen, wonach ihr Bruder gefragt hatte.
Adam und ich wechselten Blicke.
Er nickte.
?Na ja, eigentlich?, begann ich und belie? es dabei, w?hrend ich eine Hand in die Tasche meines Parkas steckte. Ich fischte zwei Snickers hervor – übrig gebliebene Wegzehrung aus New York – und überreichte sie den Kindern wie einen Stapel Spielkarten.
Sie schnappten gierig danach, und Madison stopfte ihren Riegel eine Nanosekunde sp?ter, nachdem sie das Papier abgestreift hatte, in den Mund.
Meine Schw?gerin Beth kam aus dem Haus und stapfte über die freigeschaufelte Einfahrt auf uns zu. Sie war eine intelligente, entschlossene Frau, deren K?rper zwei Kinder gebar und diese aufzog, mit einer seelenruhigen Abgekl?rtheit, die von gro?er Reife zeugte. Bei unserer letzten Begegnung, kurz bevor Jodie und ich in den Norden Londons gezogen waren, hatte sie mich als Stück Schei?e bezeichnet und mich angesehen, als kratze sie mir gleich die Augen aus.
?Es ist so sch?n dich wiederzusehen, Sü?e?, sagte Beth und umarmte Jodie. Beth war nur ein wenig ?lter als meine Frau, doch in diesem Augenblick w?re sie glatt als ihre Mutter durchgegangen.
Sie lie?en einander los und Beth kam zu mir hinüber. ?Der berühmte Schriftsteller.? Ich bekam einen Kuss auf die Wange.
?Hey, Beth.?
?Siehst gut aus.?
Sie log natürlich, denn ich war w?hrend der vergangenen Monate blasser und dünner geworden. Meine Augen lagen tief in den H?hlen und waren schwarz umrandet, die Haare einen Tick zu lang, um sie gepflegt zu nennen. Es war die Schreibblockade, die mich nachts wach hielt.
?Okay, genug Small Talk.? Jodie glühte vor Aufregung. ?Schauen wir uns endlich das Haus an.?
?Yeah?, pflichtete ich bei, den Blick entlang der Sackgasse schweifend. ?Welches ist es??
Adam fischte einen Schlüsselbund aus seiner Tasche. ?Keins von denen. Kommt.?
Er führte uns zu einer Gruppe Kiefern. Ein matschiger Weg schnitt durch die B?ume und verschwand. Wir stapften ihn durch den Schnee entlang.
Ich musste lachen, hielt im Wald auf halben Weg an. ?Du verarschst mich, oder??
Adams Augen funkelten. ?Du h?ttest die Umzugsleute sehen sollen, wie sie mit dem Laster im Rückw?rtsgang zum Haus gefahren sind.? Er ging weiter.
Jodie schloss zu mir auf, streifte meine Schulter und flüsterte: ?Wenn dieses gottverdammte Ding aus Lebkuchen ist, kann dein Bruder was erleben.?
Wir gelangten auf eine Lichtung.
Es war ein zweist?ckiges, wei?es, giebelst?ndiges Haus mit ringsum verlaufender Veranda und einige dürre B?ume verbargen zum Teil das grau gedeckte Dach. Auch wenn es nicht riesig war, bestand zwischen diesem Geb?ude und unserer beengenden Londoner Wohnung ein himmelweiter Unterschied. Selbst mit offensichtlichen kosmetischen M?ngeln – Schindeln fehlten und Latten im Terrassengel?nder, die Holzverkleidung schrie geradezu nach einem frischen Anstrich – kam es mir vor, als gebe es im gesamten Universum kein perfekteres Haus.
Adam hatte uns Bilder per E-Mail zukommen lassen, aber erst jetzt, als wir dastanden und das Haus – unser Haus – in natura sahen, erhielten wir einen vollst?ndigen Eindruck davon.
?Nun?? Er stand auf der Terrasse und stemmte die H?nde in die Hüften. ?Hab ich zu viel versprochen, Leute??
?Es ist perfekt.? Jodie lachte, umarmte und küsste mich, was ich erwiderte.