Die Treppe im See(37)
Ich glaubte, etwas hinter mir zu h?ren, und fuhr herum. Für den Bruchteil einer Sekunde verga? ich, wo ich war. Eigentümlich ruhig schritt ich weiter voran auf der Suche nach einem Jungen, von dem ich wusste, dass er nicht da war. Alles erschien mir auf dramatische Weise überbetont – mein Atem, das Knirschen und Knacken der Bretter sowie das Ger?usch meiner blo?en Fü?e, als ich vom klebrigen Hartholzboden auf den Teppich im Hauseingang trat. Dessen Fransen spürte ich besonders intensiv an den Zehen, fast wie Stacheln. Meine Schritte hingegen verursachten keinerlei L?rm.
Hier herrscht Klarheit, dachte ich mir und war nicht sicher, was ich damit meinte.
Ich lie? die Diele hinter mir. Im Wohnzimmer dachte ich: Die Wirklichkeit ist eine Frage subjektiver Wahrnehmung, genauso wie Tr?ume oder Erz?hlliteratur. Alles ist Fiktion, und der Trick besteht darin, sich an etwas festzuhalten – festzuhalten mit aller Kraft –, bis man dazu in der Lage ist, einen halbwegs normalen Zustand wiederzuerlangen.
Wirf einen Anker aus, dachte ich weiter.
Dann blieb ich stehen, mitten im Wohnzimmer, frierend, allein und unsicher, was zur H?lle ich da machte. Der Mond, ein Glupschauge mit stechendem Blick, linste durch eines der Fenster; das Licht der Stra?enlampen bohrte sich wie Nadeln in meine Augen. Ich bildete mir ein, die Tür zum Keller zu h?ren, die von hier aus auf der anderen Seite des Hauses lag … und h?rte schnelle Schritte jener nackten Fü?e, barfü?ig über die Treppe laufen, zwei auf einmal nehmend, hinab in die eiskalte, verlassene Finsternis …
Aber ich bewegte mich nicht.
Ich war fertig mit der Geisterjagd.
Teil drei.
Ruhiger Ozean
Kapitel 16
Veronica Dentman lebte in einem unscheinbaren D?rfchen in Maryland, das eine uneindeutige Grenze zwischen Cumberland und den Potomac Highlands von West Virginia beschrieb. Die Abendnachrichten empfing man hier von einem Sender in Pittsburgh.
Den Gro?teil der Strecke legte ich auf einer unw?gbaren, namenlosen Stra?e zurück, die sich durch dichte, vom Schnee betupfte W?lder über Berg und Tal schl?ngelte. Den Morgen verbrachte ich damit, meinen Kreislauf mit schwarzem Kaffee auf Trab zu bringen und im Akkord Zigaretten zu rauchen – armselige Versuche, meiner überspannten Nerven Herr zu werden. Zudem war ich mit starken Kopfschmerzen wachgeworden und jeder meiner Muskeln fühlte sich lasch an, was ich als sicheres Zeichen dafür deutete, dass ich etwas ausbrütete. Der Abstecher aus der Enge des Hauses in die Wildnis tat mir andererseits gut, selbst wenn ich Unruhe im Leib verspürte, als winde sich ein Parasit durch meine Eingeweide.
Neben mir auf dem Beifahrersitz stand ein einzelner Karton voller Gegenst?nde, die ich gezielt aus Elijahs Zimmer mitgenommen hatte, um sie seiner Mutter zurückzugeben. Zwischen beiden Sitzen klemmten mehrere Stra?enkarten vom Westen Marylands, wobei Veronicas Wohnort auf einigen gar nicht eingezeichnet war.
Ich rechnete mit ungef?hr einer Stunde Fahrt – nicht nur aufgrund dessen, was Adam gesagt hatte, sondern auch wegen der Entfernung zwischen West Cumberland und Westlake auf den Karten –, aber gegen Ende der Strecke verlor ich unn?tig viel Zeit und zuckelte einige schmalere Nebenstra?en durch den Wald, bis ich nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Ich hatte Geschichten über Leute geh?rt, die heutzutage in der Wildnis verlorengingen und nie lebend wiedergesehen wurden. Mit Ampeln und Stra?enschildern kannte ich mich besser aus als mit ewig langen Pisten aus platt gedrücktem Schnee und Hartriegeln am Rand, soweit das Auge reichte.
Nachdem ich ungef?hr zwanzig Minuten nach dem richtigen Weg gesucht hatte, fuhr ich mit dem Honda durch heruntergekommene, leere Stra?en eines trostlosen Bergdorfes, das meinen Erwartungen absolut nicht entsprach. W?hrend Westlake sauber und heimelig beziehungsweise zu sehr wie ein Stillleben von Norman Rockwell wirkte, handelte es sich bei dieser Siedlung um Westlakes degenerierten Bruder. Die H?user hier – etwas weniger als doppelt breite Trailer – waren zusammengepfercht wie Waggons an einem Güterbahnhof. Sie wirkten klein, ?rmlich und passten farblich nicht zueinander, ganz zu schweigen davon, dass die Verkleidungen abbr?ckelten und Fensterl?den fehlten. Auf manchen D?chern hatte man alte Autoreifen festgenagelt. W?schespinnen aus Aluminium sprossen wie zu kurz geratene elektrische Umsetzer aus den G?rten und gl?nzten matt in der Sonne.
Alle H?user waren umz?unt, allerdings nicht mit wei?en Lattenz?unen wie in Westlake; vielmehr wirkten sie wie Gef?ngnisse aus rostigem Maschendraht, der grob etwas von Fenstergittern von Nervenheilanstalten hatte. Neben einer Tür standen Einzelteile einer gro?en Fernsehantenne, die aussahen wie ein von Geiern abgenagter Torso. Selbst der Schnee kam mir dreckig vor.
Ich fuhr noch ein paar Minuten ziellos herum, bis ich Veronicas Stra?e entdeckte – was keine leichte Aufgabe darstellte, da das Schild mit dem Namen im rechten Winkel umgebogen war und wie die Schranke einer Mautstelle auf die Fahrbahn ragte. Ich lenkte scharf rechts, um im weiten Bogen auszuweichen, und schaute angestrengt durch die Windschutzscheibe, um die erstbeste Hausnummer auszumachen. Auch das fiel schwer, denn die schmiedeeisernen Lettern hingen an einigen der Heime neben dem Eingang und damit im Schatten ramponierter Vord?cher, w?hrend man sie anderswo gegen den Pfosten des Briefkastens geh?mmert hatte. Die unterschiedliche Farbe im Umriss der jeweiligen Zahl am Holz blieb dann der einzige Hinweis darauf, dass es sie überhaupt gab.
Es handelte sich um eine Sackgasse, die am Fu? einer bewaldeten Anh?he endete. Da ich Veronicas Adresse nicht sichten konnte, fragte ich mich, ob Adams Angabe vielleicht nicht richtig war. Ich legte den Rückw?rtsgang ein und fuhr auf selbem Weg zurück, um mich noch einmal zu versichern, w?hrend ich nicht umhinkam, die hochgeklappten Lamellen der Fensterrollos und Augenpaare im Dunkel hinter den Scheiben zu bemerken. Schlie?lich war ich erneut am Ende der Gasse angelangt und schaltete den Motor ab. Entweder hatte mir Adam die falsche Adresse gegeben, oder ein Tornado hatte Veronicas Haus fortgeweht.