Die Treppe im See(46)



?Um wieviel Uhr war das in etwa??

?Rund um fünf Uhr drei?ig. Wenn ich zu sp?t zu Abend esse, bekomme ich eine Magenverstimmung.?

?Aber Sie sind nicht sicher, ob es der Junge war.?

?Ehrlich gesagt dachte ich mir in dem Moment nichts dabei. Sie werden bald selbst feststellen, dass die Ger?uschkulisse am See im Sommer ziemlich au?ergew?hnlich ist – ob Vogelzwitschern, andere Tiere oder spielende Kinder. Selbst den Verkehrsl?rm vom anderen Ende der Stadt bekommt man in kühlen Sommern?chten über das Wasser hinweg mit, und Gott stehe uns bei, wenn die Seetaucher zurückkehren um sich zu r?chen. Das Besondere an dem Gew?sser besteht darin, dass sich Ger?usche darauf ver?ndern, au?er Proportion geraten und verfremdet klingen, sodass man nur noch r?tseln kann, was sich dahinter verbirgt. Man nimmt sie von links wahr, obwohl ihr Ursprung in Wirklichkeit eine Viertelmeile in der entgegengesetzten Richtung hinter den Kiefern liegt.?

?Wann wussten sie mit Bestimmtheit, dass es Elijah war??

?Wahrscheinlich sobald die Polizei hier war und fragte, ob ich etwas Ungew?hnliches bemerkt h?tte?, erwiderte Nancy. ?Ich dachte lange und gründlich nach, ehe ich aussagte, dass ich jemanden schreien geh?rt hatte oder zumindest glaubte, es getan zu haben. Aber ich beharrte nicht darauf, dass es sich um den Kleinen handelte?, fügte sie rasch an, und dieses Verhalten verriet mir, dass sich die unglückliche Frau manche Nacht in Ungewissheit zermürbt hatte. ?Das m?chte ich ausdrücklich betonen.?

?Verstehe?, sagte ich. ?Haben Sie beide Elijah nachmittags noch gesehen??

?Ich sah ihn?, sagte Nancy, als bekenne sie sich eines grausamen Verbrechens. Sie sah elend aus.

Ihre Haut war so bleich geworden, dass ich dachte, sie würde, wenn ich sie mit einer Nadel stach, nicht bluten. ?Ich ging etwas früher mit Fauntleroy am See Gassi, wo ich Elijah sah. Er stand auf dem Holzgerüst und sprang ins Wasser, wie von einem Sprungbrett. Ich wei? noch, dass ich den Kopf schüttelte, weil ich es für so gef?hrlich hielt.?

?Der Rest dieses Steges liegt unter Wasser?, unterbrach Ira. ?Taucht man zu tief, st??t man dagegen.? Sein Gesichtsausdruck unterstrich, dass sich seine Befürchtungen, was die Risiken der halb versunkenen Treppe anging, allzu bitterlich bewahrheitet hatten. ?Im Sommer müssen wir die Kinder aus der Nachbarschaft st?ndig von dort vertreiben.?

?Haben Sie auch etwas an diesem Tag mitbekommen, Ira??

?Da es ein Werktag war, hielt ich am College Nachmittagsunterricht.?

?Um wie viel Uhr war das??

?Der Unterricht endete gegen fünfzehn nach sechs. Für gew?hnlich ging ich danach ins Büro, um meine Sachen zusammenzupacken, bevor ich aufbrach.? Er dachte kurz nach und fuhr fort: ?Wahrscheinlich kam ich um etwa sieben nach Hause zurück.?

Nachdem ich das verinnerlicht hatte, wandte ich mich wieder Nancy zu. ?War er allein, als sie ihn auf dem See sahen??

?Ja.? Sie sprach jetzt leiser, als stünde sie kurz davor, ein übles Gerücht in die Welt zu setzen. ?Keines der anderen Kinder wollte mit ihm spielen.?

?Weshalb??

Zum ersten Mal seit Beginn unserer Konversation schwiegen die Steins geschlossen. Nancy starrte in ihre Tasse, die nicht mehr dampfte. Ich rechnete vorübergehend damit, dass sie sich gleich wieder in die Küche flüchtete.

Schlussendlich sagte Ira. ?Nur zu. Erz?hl ihm von dem Hund.?

?Chamberlain war nicht blo? ein Hund?, wies ihn Nancy scharf zurecht. Sie klang aufrichtig verletzt.

?Wir hatten einmal zwei dieser Püppchen?, erkl?rte Ira, indem er mit einem Pantoffel auf Fauntleroy zeigte. (Der Hund musste wohl die Geringsch?tzung bemerkt haben, da er unterschwellig knurrte.) ?Chamberlain bekam vor etwa zwei Jahren Krebs und starb im vergangenen Frühling.?

?Die Behandlung schlug nicht an?, bedauerte Nancy.

?Der Doc empfahl uns Tabletten, die wir, als die Zeit gekommen war, unter sein Futter mengten. Er schlief sanft ein.?

?Und schmerzlos?, erg?nzte sie.

?Am Morgen darauf fand ich ihn tot dort drüben.? Ira zeigte auf einen rechteckigen Lichtfleck am Fu?boden vor der Terrassentür. ?Gut m?glich, dass er in der Sonne sterben wollte.?

Nancy schniefte. Ich brachte es nicht zustande, sie anzusehen.

?Ich nahm ihn mit in den Wald und begrub ihn auf halbem Weg den Hang hinunter, kurz bevor der Boden zu felsig wird. Gut eine Stunde dauerte es; man untersch?tzt die Gr??e eines Hundes, wenn man ihn unter die Erde bringen muss. Als ich müde und verschwitzt aufschaute, sah ich den kleinen Dentman zwischen den B?umen. Er beobachtete mich aus einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten. Ich dachte mir nichts dabei, bis ich ein paar Tage sp?ter wieder dort vorbeikam. Ich wollte zum Angeln an den See gehen und fand das Loch aufgegraben vor, und der Kadaver des Hundes fehlte.?

?Gott, sei ihm gn?dig?, flüsterte Nancy. Sie lie? sich sogar dazu hinrei?en, sich zu bekreuzigen.

Die Schallplatte gegenüber im Zimmer war zu Ende, man h?rte nur noch die Nadel in der Endrille schleifen.

?Moment?, lenkte ich ein. ?Wollen Sie damit andeuten, Elijah Dentman habe Ihren toten Hund ausgegraben und sich mit ihm davongemacht??

?Ich behaupte nur,?, wiederholte Ira gereizt, ?dass er der einzige Mensch gewesen ist, der wusste, wo ich den Hund bestattet habe. Wenige Tage sp?ter war das Grab offen, und von Chamberlain fehlte jede Spur. Jetzt dürfen Sie zwei und zwei zusammenz?hlen.?

?Aber … wieso?? Andere Worte fand ich nicht. Diese neue Einzelheit hatte mich kalt erwischt, auch nach den toten V?geln, die mir im Vormonat in dem Geheimversteck zugefallen waren.

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