Die Treppe im See(49)
?Zieh Leine?, zischte Adam.
?Ich will auch im Dunkeln rausschleichen.?
?Darfst du nicht?, lie? Adam ihn wissen. ?Bist noch zu klein.?
?Dann verrate ich euch.? Wir hatten schon einige Zeit damit gerechnet, dass er dieses Ass im ?rmel gegen uns ausspielen würde. ?Ich sag es Dad.?
?Nein?, widersprach Adam. ?Tust du nicht. Falls doch, werden wir dich nach dem Mittagessen nicht mehr mit zum Fluss nehmen.?
?Travis??, fragte Kyle.
?Er hat recht?, beteuerte ich. ?Ein Wort, und du darfst nicht mehr mit uns zum Schwimmen kommen. Und du musst die Nachttischlampe im Zimmer ausmachen, auch wenn du dich fürchtest.?
?Du bist erst zehn geworden?, erinnerte Adam, womit er auf unheimliche Weise wie unser Vater klang, ob bewusst oder nicht. ?Da l?sst man das Licht nachts nicht mehr an.?
?Das tue ich fast nicht mehr?, protestierte Kyle.
?Wenn du etwas verr?tst, knipsen wir es dir für immer aus?, drohte ich.
Und damit hatte es sich. In jener Nacht, nachdem unsere Eltern zu Bett gegangen waren, kam Adam zu uns ins Zimmer und weckte mich. Ich setzte mich auf und zog mich ger?uschlos an, w?hrend sich Kyle gegenüber im Raum auf der Matratze w?lzte, um mich darauf hinzuweisen, dass er wach war. Ich sagte ihm, er solle weiterschlafen, was er mit einem leisen Winseln quittierte, als sei er ein Hund, der gerade gerügt wurde.
Mit Turnschuhen und Badehose schlich ich durch die Tür hinter Adam her über den Flur bis zum Wohnzimmer. Wir verlie?en das Haus durch die Terrassentür, weil sie am weitesten vom Schlafzimmer unserer Eltern entfernt war und den geringsten L?rm verursachte. Bevor ich ihm nach drau?en folgte, blickte ich über die Schulter zurück. Da stand Kyle als milchig undeutlicher Klecks am anderen Ende des finsteren Flurs und starrte mich an. Wie ein Gespenst.
So ging es mehr oder weniger den ganzen Sommer lang weiter, bis Adam die Windpocken bekam. Er hatte sie ziemlich stark und lag deshalb zwei Wochen lang im Bett, wirkte ersch?pft und unglücklich.
Seine Haut hob sich – abgesehen von den roten Pusteln – praktisch nicht von den wei?en Laken ab, auf denen er ruhte.
Kyle und ich hatten die Krankheit bereits, als wir noch sehr klein gewesen waren. Adam war damals gesund geblieben, obwohl Mutter ihn absichtlich zu uns zwei Roth?uten mit Juckreiz gesteckt hatte. Es stand also au?er Frage, dass wir uns erneut ansteckten. Ich wei? noch, wie Kyle und ich gegen Mittag K?setoast am Fu? von Adams Bett a?en und dabei gemeinsam mit ihm fernsahen, nachdem Vater das tragbare TV auf die Kommode gestellt hatte. Dieser Eindruck, so allt?glich und ereignislos er war, ist einer der lebendigsten, die ich auch als Erwachsener noch in mir trage.
Natürlich schlugen wir uns nachts nicht mehr hinunter zum See an den überdachten Pier. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, und ich war süchtig geworden nach der Aufregung beim blinden Sprung von den Brettern ins Nichts, einem Nachtflug wie dem einer Fledermaus, unterbrochen einzig vom markerschütternden Eintritt durch die schwarze Wasseroberfl?che ins salzig schmeckende, eisig kalte Nass. Ich fürchtete, er w?re bis zum Winter krank, wenn es zu kalt war, um die n?chtlichen Spritztouren wieder aufzunehmen.
So wurde ich eines Nachts, als ich sicher war, dass unsere Eltern schliefen, wach und strampelte die leichte Decke von mir.
Ich h?rte die Federn von Kyles Bett knarren, als er sich umdrehte und den Kopf auf eine Hand stützte. Er sah schweigend zu, wie ich mich im Dunkeln anzog. ?Gehst du allein??
?Ja. Sei still.?
?Mom und Dad haben gesagt, wir sollen nicht allein schwimmen.?
?Mom und Dad wollen auch nicht, dass wir mitten in der Nacht aus dem Haus schleichen – und??
Kyle verstummte; er schien sich unschlüssig zu sein, ob ich ihm eine legitime Frage gestellt hatte und eine Antwort erwartete oder ihn aufzog.
Ich setzte mich auf den Boden und zog meine Turnschuhe über die nackten Fü?e. Ich hatte mich nach etlichen Malen daran gew?hnt, das Haus heimlich mit Adam zu verlassen, und mir kaum Gedanken darüber gemacht. Vermutlich war ich davon ausgegangen, dass Adam als ?lterer von uns beiden den Gro?teil von Vaters Zorn zu spüren bekam, gewisserma?en mein Puffer, falls wir je aufflogen. Diesmal jedoch nahm ich es allein und ohne Sicherheitspolster in Angriff. Z?gerlich hinterfragte ich meine Bruderliebe: Würde ich versuchen, wenn Dad mich erwischte, meine Strafe zu mildern, indem ich Adam in den Rücken fiel und preisgab, dass er dieser Gepflogenheit schon seit Sommeranfang nachging und ich sie nur weiterführte?
?Lass mich mitkommen?, forderte Kyle aus seinem Bett. Mondlicht sickerte durch die halb geschlossenen Vorh?nge herein, sodass sein blondes Haar gespenstisch wei? schimmerte.
?Nein.?
?Ich w?re ein guter Aufpasser.?
?Den brauche ich nicht.?
?Und wenn der Mann mit dem Gewehr wiederkommt??
Ich band mir gerade die Schuhe und hielt inne. ?Woher wei?t du davon?? Wir hatten weder Kyle noch sonst jemandem gegenüber erw?hnt, dass der alte Sack einen Warnschuss in die Luft abgegeben hatte.
?Adam hat es Jimmy Dutch im Hof erz?hlt, kurz bevor er krank wurde.?
?Hast du Mom und Dad was davon erz?hlt?? Ich wusste, dass dem nicht so war, denn andernfalls h?tten wir es bereits zu spüren bekommen. Trotzdem konnte ich mir die Frage nicht verkneifen.
?Nein.?
?Und am besten bleibt es auch so.?
?Sicher, aber lass mich bitte mitkommen. Ich bin ganz leise und mache keinen ?rger.?
(Diesen Augenblick durchlebe ich jedes Mal wieder, wenn ich die Augen schlie?e und an die Geschehnisse jenes Sommers zurückdenke. Es gibt kein Entrinnen davor und kein Leugnen.)