Die Treppe im See(50)



?Okay?, sagte ich nach einer Weile. ?Aber du musst still bleiben und alles tun, was ich dir sage. Verstanden??

?Klar.? Er stellte sich aufrecht ins Bett; selbst im Dunkeln sah ich, dass er bis über beide Ohren grinste.

?Los, mach dich fertig.?

Zu sagen, in jener Nacht seien zwei Brüder gestorben, ist nicht vermessen, und ich werde es tun. Ich will es aussprechen als Zeuge. Als lebender Toter.

… und die beiden Brüder schleichen sich mucksm?uschenstill aus dem Haus, als tr?ten sie auf den Holzfu?boden eines Pfarrhauses. Sie gelangen mit nichts als Freizeitschuhen und Badehose am Leib in den Wald; nur ein Handtuch haben sie sich um den Hals geh?ngt. Die finsteren Umrisse der B?ume scheinen sie von allen Seiten zu bedr?ngen. Sie sind davon überzeugt, dass die Pflanzen wie lebendige Wesen um sie wandeln, doch sobald sie sich umdrehen und rundherum ins Geh?lz starren, erstarrten sie wie eine Statue – Pflanzen eben. Sie bewegen sich forsch im Angesicht des Mondes über den Waldweg, bis sie endlich das Ufer erreichen. Es ist Sommer, es ist gro?artig; nichts erscheint ihnen in diesem Moment wichtiger.

Weiter vorne Richtung Bucht wird der Fluss breiter. Die zwei sind seiner Unermesslichkeit intuitiv gewahr. Der ?ltere, dreizehnj?hrige Junge l?uft schnell hinunter zum Flussrand, wo sich der Steg wie eine Doppelhelix ausstreckt.

?Sind die Geschichten wahr??, will der Jüngere wissen.

?Welche meinst du??

?Die Sachen, die Dad erz?hlt.?

Der andere hat dunkle Locken und den Wuchs einer Echse oder eines Vogels mit langen Gliedern. ?Natürlich sind sie es, Dummkopf?, behauptet er, um seinen Bruder zu ver?ngstigen. ?Weshalb sollte Dad uns belügen??

?Wei? nicht.?

?Sie stimmen, und zwar alle von ihnen.?

?Selbst die vom Wendigo??

?Besonders die. Vielleicht lauert er gerade irgendwo in der N?he und beobachtet uns.?

?Nein?, quengelt der Kleine. ?H?r auf damit.?

?Womit?? Der ?ltere kichert.

?Du willst mir blo? Angst einjagen.?

?Passiert das auch, wenn es an der Zeit zum Springen ist??

?Springen wohin??

Der Dreizehnj?hrige zeigt auf die imposante Konstruktion, die wie ein Dinosaurierskelett aussieht. ?Von dort, dem Pier aus ins Wasser.?

Der Jüngere wirkt mit einem Mal verst?rt. Alle M?rchen, die ihnen ihr Vater erz?hlt hat, stellen für ihn die Wirklichkeit dar, kindliche Protagonisten und Monster, die in den W?ldern leben. Obwohl die Nacht sehr mild ist, zittert der Kleine. Die blasse Brust überzieht eine G?nsehaut, und seine mahlenden Z?hne verursachen Ger?usche gleich einer angriffslustigen Klapperschlange. Er leuchtet wei? – viel zu wei?, beinahe durchsichtig. Sein Bruder vergleicht ihn mit einem Gespenst.

?Klettere die Treppe nach oben?, befiehlt er ihm. ?Dann tief einatmen, loslaufen und abspringen.?

?Abspringen?, wiederholt der Junge jeweils halb als Frage und Aussage, was an der Unsicherheit in seinem Tonfall liegt.

?Du fürchtest dich doch nicht etwa??

Er schüttelt den Kopf.

?Dann hoch jetzt, und ab ins Wasser. Ich halte dein Handtuch fest.

?Zuerst??

?Zuerst was??

?Du willst, dass ich zuerst springe??

?Es sei denn, du hast zu viel Angst; es sei denn, du bist ein Hosenschei?er.?

?Sag das nicht?, bittet der kleine Bruder. Seine Stimme ist zu schwach und brüchig, als dass es respekteinfl??end klingt. ?Sag nicht dieses Wort.?

?Hosenschei?er?, wiederholt sein Bruder. ?Hosenschei?er, Hosenschei?er, Hosenschei?er.?

?H?r auf.?

?Und verdammt dazu?, h?ngt der ?ltere leiser an, denn dies ist das verbotene Wort, der ultimative Fluch und fast biblisch in seiner Pr?gnanz beziehungsweise wegen der Geheimnisse, die es umgeben. ?Bist du ein verdammter Hosenschei?er??

Der Kleine scheint den Tr?nen nahe.

?Du wolltest mit herkommen?, erinnert der ?ltere Bruder. ?Falls du mutig genug bist, dann los.?

Er zaudert lange. Paradoxerweise will der gro?e dem kleinen Bruder gerade auf die Schulter klopfen und sagen, er solle sich ruhig ins Gras setzen, als dieser ihm sein Handtuch reicht und die Schuhe auszieht.

Sein Mut beeindruckt den ?lteren. W?re die Situation andersherum, wüsste er nicht, ob er dazu in der Lage w?re, sich genauso tapfer zu zeigen.

Der Jüngere geht barfu? ums Gestrüpp, wobei kleine Spuren im feuchten Grund zurückbleiben, und erklimmt die Stufen auf das Dach des Stegs. Auf halber H?he wird er langsamer und schaut nach unten; schlie?lich legt er auch den Rest zurück. Oben ist er nur ein schwarzer Schatten, ein undeutlicher Schemen im Dunkel. Der Mond steht klein in der Ferne, verhüllt von Wolken und Baumwipfeln; die Nacht ist finster, wie ein Hort verdr?ngter Tr?ume. Der ?ltere Bruder kann ihn kaum erkennen.

?Sei vorsichtig?, wispert er.

Eine schwachbrüstige Stimme versichert beklommen: ?Bin ich.?

Er h?rt ihn tief Luft holen.

Er wird es wirklich tun, denkt sich der ?ltere.

Kurze, hastige Schritte trippeln über die Dachplanken, dass an einen nahenden Zug erinnert, der eine h?lzerne Brücke überquert.

Wow, er macht es tats?chlich. Kaum zu glauben.

Stille kehrt ein, als der kleine Junge die Kante erreicht und abspringt. Jetzt schwebt er in der Luft, h?ngt irgendwo in der Leere.

Ein Mississippi, zwei Mississippi …

Der ?ltere Junge erwartet den Aufprall; er h?rt und spürt ihn im Voraus.

Aber er kommt nicht.

Kein klatschendes Ger?usch.

Dafür ein anderes – ein kr?ftiger, übelkeit erregend dumpfer Knall vom Wasser her, der den ?lteren an einen Baseball erinnert, der im Lederhandschuh des F?ngers aufschl?gt. Kein Platsch. Er ruft den Namen seines Bruders, wartet jedoch vergeblich auf eine Antwort.

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