Die Treppe im See(55)
?Kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.?
?Gibt es keinen Weg, es herauszufinden? Ich meine, wer waren denn die Officers, die ihn festnahmen??
?Unm?glich, es aus diesem Geschwafel herauszulesen?, meinte Earl.
?Gut, David Dentman hat also ein Vorstrafenregister?, resümierte ich. ?Sicherlich haben die Cops einen Blick darauf geworfen, nachdem Elijah verschwunden ist??
?Jede Wette, dass sie Bescheid wissen. Mit Sicherheit.?
?Der Neffe des Typen ertrinkt angeblich, und die Leiche taucht nie wieder auf und das Einzige, das sie haben, ist seine Aussage? Klingt nach ziemlicher Schlamperei, finden Sie nicht??
?Dann w?re da noch die Frau?, erinnerte mich Earl. ?Sie hat den Jungen am See gesehen und sp?ter diesen Schrei geh?rt. Nicht zu vergessen.?
?Richtig. Nancy Stein. Ich unterhielt mich vor ein paar Tagen mit ihr und ihrem Ehemann. Erst nachdem sie von der Polizei verh?rt wurde, sagte sie, sie habe einen Schrei geh?rt. Als Heulen umschrieb sie es.? Ich runzelte kopfschüttelnd die Stirn. ?W?hrend unseres Gespr?ches zeigte sie sich nachdenklich, als habe sie seit jener Zeit lange N?chte über den Schrei und ihre Angabe den Cops gegenüber gegrübelt. Ich glaube, sie glaubt, man habe sie dazu gedr?ngt, den Schrei als Elijahs Schrei aufzufassen.?
Earl kratzte mit den Fingern?geln an der Seite seines b?rtigen Halses entlang. Meine Worte lie?en ihn erstarren; sein Blick vom anderen Ende des schwach ausgeleuchteten Tisches sah vielsagend aus. ?Sie denken an eine polizeiliche Vertuschung??
?Nein, nein. Nichts dergleichen. Vielleicht haben die Ermittler Nancy unbewusst Worte in den Mund gelegt und sie auf Gedanken gebracht, die gar nicht ihre eigenen waren. Lassen Sie es sich einmal durch den Kopf gehen: Sie h?ren ein Ger?usch, das sich in etwa wie ein Schrei anh?rt, und denken sich nichts dabei. Sp?ter kreuzt ein Trupp Cops vor der Haustür auf und verkündet, der Nachbarjunge werde vermisst und sei vermutlich im See ertrunken. Sie werden gefragt, ob sie etwas geh?rt haben, vielleicht einen Schrei oder Heulen oder etwas in der Art. Und natürlich kommt man wieder auf jenen nicht zuzuordnenden Schrei zurück, den man sich früher am Tag entweder eingebildet oder tats?chlich geh?rt hat. Auf einmal sind sie v?llig davon überzeugt, und genau dies halten die Polizisten in ihren Berichten fest.?
?Klar?, erwiderte Earl. ?Das kaufe ich Ihnen ab.?
?Haben Sie David oder Veronica für Ihren Artikel interviewt??
?Nein, die Polizei gestattete es nicht.?
?Und woher stammen Ihre Informationen??
?Von den M?nnern vor Ort. Sp?ter gelangte ein von Paul Strohman abgesegnetes, offizielles Statement an die Presse, mit dem ich meine Stichpunkte abglich.?
?Paul Strohman?? Wo hatte ich den Namen geh?rt?
?Der Polizeichef. Warten Sie …? Earl kramte in der Mappe, ging mehrere Seiten durch und übergab mir einen ausgeschnittenen Zeitungsbericht.
Es handelte sich um eine kurze Bekanntgabe, das Pr?sidium in Westlake schlie?e den Fall bezüglich Elijah Dentmans Verschwinden ab und begnüge sich damit, dass der Junge sich verletzt habe und ertrunken sei. Neben den Zeilen prangte ein unzureichendes Schwarz-Wei?-Foto von Polizeichef Strohman. Auch wenn es nicht eben durch Sch?rfe gl?nzte, erkannte ich, dass der Mann souver?n aussah und gut gebaut war. Er trug einen feingeschnittenen Anzug aus dunklem Stoff statt der erwarteten Uniform und hatte das verschlagene Grinsen eines Washingtoner Lobbyisten. Paul Strohman entsprach in keiner Weise dem Bild, das man sich vom Chef einer Polizeieinheit irgendeines Hinterw?ldler-Kaffs in den Bergen machte.
Davids Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge wie ein Schiff, das eine Nebelbank durchbrach. Ich stand wieder in seinem Wohnzimmer und er feuerte Fragen auf mich ab: ?Sind Sie ein Cop? Hat Strohman Sie geschickt??
?Behalten Sie im Hinterkopf, dass nichts von dem, was uns hier vorliegt, handfest ist. Wir haben nur ein weitere Tür ge?ffnet, gehen einer anderen Spur auf den Grund.?
Einem anderen Beweisstück, pr?zisierte ich in Gedanken.
?Genau genommen?, fuhr Earl mit einem erneuten Griff in den Akkordeonordner fort, ?liest sich die Vorgeschichte der Dentmans allgemein recht betrüblich. Der Apfel fiel in ihrem Fall nicht weit vom Stamm.? Er zog weitere Seiten heraus, liniertes und von ihm selbst eng beschriebenes Papier. Er berührte fast seine Nase damit, um es lesen zu k?nnen. ?Davids Schwester …?
?Veronica?, warf ich ein.
?Sie lebte in regelm??igen Abst?nden in Nervenheilanstalten, zuletzt in Crownsville im Osten, bevor man den Laden vor ein paar Jahren dichtmachte.?
?Wie lange??
?Sechs Monate, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie genau man die Informationen nehmen darf.?
Welche Quellen er dafür herangezogen hatte, fragte ich ihn nicht.
?Wer sich in der Zeit um ihren Sohn kümmerte, konnte ich nirgendwo in Erfahrung bringen.? Earl fuhr fort, bevor ich ihn noch fragen konnte. ?Ich tippe aber auf David.?
?Nicht den Vater des Kindes??
?Den kennt ja niemand. Aber ich habe meinen Informanten Veronicas Hintergrund offenlegen lassen. Ihr polizeiliches Führungszeugnis war sauber.? Er pochte auf die Kopie von Davids Akte, die ich auf den Tisch gelegt hatte, und sprach weiter: ?Diese Adresse in West Cumberland, die er als offizielle angab, ist die gleiche wie ihre. Davor lebten die beiden allem Anschein nach gemeinsam in Dundalk. Dann ein kurzer Aufenthalt in Pennsylvania –?
?Lassen Sie mich raten?, unterbrach ich. ?Selbe Adresse.?
Er legte beide H?nde flach auf den Plastikbezug der Tischplatte und lehnte sich so nah zu mir, dass ich seinen Bieratem roch. ?Die zwei wohnen zeit ihres Lebens zusammen. Sie hat wohl ein paar Schrauben locker, wenn ihr Bruder so auf sie achtgeben muss, sch?tze ich.?