Aschenpummel (German Edition)(37)
Mist, drei Tassen Kaffee waren eindeutig zu viel, wenn man danach stundenlang nicht aufs Klo konnte. Ich spähte aus sämtlichen Fenstern in alle Richtungen. Hinter mir war der Feldweg, vor mir die Hütte, links und rechts Büsche und Bäume. Vorsichtig schnallte ich mich ab, dann öffnete ich im Zeitlupentempo die Autotür. Die Hüttentür ließ ich währenddessen nicht aus den Augen. Auch nicht die Fenster, doch das war eigentlich unnötig, ich hatte die Fensterläden noch nie geöffnet gesehen.
Ich rutschte vom Sitz und ließ mich aus dem Auto auf die Wiese gleiten, actionfilmreif. Dort blieb ich eine Minute lang auf dem Hintern sitzen, mit zugedrückten Augen, jede Sekunde das Donnerwetter erwartend. Alles blieb still, nur die Vögel zwitscherten. Ich kam mir vor wie Bruce Willis, als ich über Gras und Erde kroch, halb auf den Knien, halb auf dem Bauch. Die Angst vorm Erwischtwerden war plötzlich übermächtig, ich richtete mich ein wenig auf und hechtete ins erstbeste Gebüsch. Es dauerte sicher eine Viertelstunde, bis ich endlich locker genug war, um pinkeln zu können. Wäre Bruce Willis wohl nicht passiert.
Ich zog die Hose hoch und wartete. Kam vielleicht doch noch ein Donnerwetter? Kaum zu glauben, dass Mama nichts bemerkt hatte. Ein bisschen Neugierde kroch jetzt trotz der Aufregung in mir hoch; was war dort in der Hütte, das meine Mutter derart ablenkte? Wahrscheinlich ein Mensch, oder? Jemand, den sie seit sechs Jahren besuchte und von dem niemand wissen durfte. Mama hatte mir am allerersten dieser Sonntage verboten, mit irgendjemandem darüber zu reden, vor allem nicht mit Tissi.
Anfangs war ich richtig stolz darauf gewesen, als Einzige in ihr Geheimnis eingeweiht zu sein. Obwohl ich ja streng genommen ganz und gar nicht eingeweiht war. Irgendwann hat der Stolz sich verflüchtigt, doch auch dann habe ich Wort gehalten und niemandem etwas verraten. Und auch Mama nicht mehr mit Fragen genervt. Überhaupt ging ich einer Konversation mit meiner Mutter am liebsten aus dem Weg.
Ich ging nicht zurück zum Auto, sondern kroch in den Büschen ums Haus herum, bis ich an der Rückseite angelangt war. Auch hier waren die Fensterläden verschlossen. Bei jeder anderen Frau hätte ich gedacht, dass sie eine Affäre hatte. Aber Mama hatte so was nicht, das wusste ich ganz genau. Mama fand Männer schlicht dumm. Sie meinte immer, sie könnte einen Mann höchstens noch dazu gebrauchen, um ihr Enkelkinder zu zeugen. Aber das kriegten ja weder ich noch Tissi auf die Reihe.
Ich wagte mich aus dem Gebüsch hervor, schlich gebückt zur Hütte und legte schließlich mein Ohr an das Holz. Nichts. Entweder war die Hütte absolut schalldicht oder die Menschen darin vollkommen ruhig. Vielleicht hielten sie irgendeine geheime Messe ab? Satansbeschwörung oder so, aber nein, Mama hatte Angst vor dem Teufel. Stimmte das überhaupt? Hatte meine Mutter überhaupt vor irgendetwas Angst? Oder war sie der Teufel selbst und wurde hier drin von ihren Anhängern gefeiert?
Ich stürzte zurück ins Gebüsch, rannte um die Hütte herum zu meinem Auto und kroch so schnell hinein, dass ich mir den Kopf am Lenkrad stieß. Ich schmiss die Tür zu, schnallte mich an, saß dann kerzengerade auf dem Sitz und wartete auf Mama. Mein Herz klopfte wie verrückt, und plötzlich wurde ich von dem Gefühl überwältigt, das dümmste und feigste Wesen auf Erden zu sein.
Und etwas wurde mir schlagartig klar: Die Tatsache, dass ich mich bisher nicht um den Inhalt der Hütte geschert hatte, hatte weniger was mit Desinteresse zu tun als vielmehr mit der Furcht, etwas wirklich Schlimmes darin zu entdecken, etwas, das meine Welt für immer auf den Kopf stellen würde.
Ja, aber warum denn nicht, Teddy, dann steht die Welt halt auf dem Kopf! Macht doch nichts! Wuuuurscht!
Die Hüttentür öffnete sich und Mama trat hinaus. Ich starrte sie gebannt an. Sie sah genauso aus wie vorher. Mit ihrem grauen Rock und ihrer glänzenden lila Bluse mit der lila Schleife, die um den Hals gebunden war. Sie sah tadellos aus, in keinster Weise so, als hätte sie gerade eine Orgie oder Ähnliches gefeiert.
»Mama …«, begann ich, als sie einstieg.
»Rede nicht, fahr los!«
Gehorsam drehte ich den Schlüssel. Der Motor sprang an, erstarb jedoch, bevor ich die Automatik auf R stellen konnte.
»Thaddäääaaa …«
Ich drehte den Schlüssel noch mal, diesmal rührte sich gleich gar nichts.
»Thaddäa!«
»Ja, Mama! Was soll ich denn tun –?« Ich klang wie ein quiekendes Schwein.