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Mein Leben war ein Phänomen, denn ich hatte einfach alles. Einfach alles, was eine Frau nicht brauchen konnte.
Ich hatte eine Schwester mit Doktortitel und Miss-Universum-Körper, eine Mutter mit Verfolgungswahn und sadistischer Ader, einen mies bezahlten Job in einem verschwindend kleinen Schuhladen, und jede kulinarische Sünde sichtbar verewigt an den falschen Stellen meines Körpers.
Außerdem hatte ich Liebeskummer. Und die herausragende Gabe, sämtliche Fettnäpfchen in meiner Umgebung aufzuspüren, um mich darin zu wälzen.
Und dann hatte ich noch etwas. Es war winzig klein, ging aber trotzdem nie verloren – obwohl ich ansonsten eine Meisterin im Verlieren war. Doch dieses Kinkerlitzchen wurde ich einfach nicht los, und so wie die Dinge standen, würde es mir noch im Tod die Treue halten.
Ich sah die Szene schon vor mir:
Meine kalte Leiche auf dem Tisch. Darüber gebeugt zwei Pathologen. Der eine: »Immer diese Hundertjährigen. Da bleibt man beim Untersuchen in jeder Falte hängen.«
Der andere: »O mein Gott, du wirst nicht glauben, an was ich jetzt hängen geblieben bin. An ihrem Jungfernhäutchen!«
Der eine: »War sie Nonne?«
Der andere: »Nö, die war einfach nur hässlich.«
Okay, vielleicht war das übertrieben. Wahrscheinlich würde ein einziger Pathologe reichen, um mich zu untersuchen. Es sei denn, Mama beschloss, mein Ende ein paar Jahrzehnte vorzuverlegen und mich am Sonntag zu ermorden, bei Mord müssen sicher zwei ran. Grund genug hätte sie. Bei dem Gedanken brach ich in Schweiß aus. Aber ich durfte nicht schwitzen! Ich musste bildschön oder zumindest trocken aussehen, denn in zehn Minuten würde ich hinüber ins Buchgeschäft gehen und meinem Traummann gegenüberstehen.
Höchste Zeit, den Laden dichtzumachen. Ächzend bückte ich mich und sammelte acht Paar Sportschuhe, Größe 27, ein. Weiße mit blauen Blümchen, silberne mit Glitzerstreifen, rote mit gelben Sternen, der Rest in fünf verschiedenen Rosaschattierungen. Und trotzdem hatte die kleine Melli wie stets nur die Nase gerümpft und ihr Schokoladeneis auf meinem Hocker verteilt. »Ich will aba Prinzessinnenportsuhe!«
Wie sollten die aussehen? Mit Stöckel drunter und Krönchen drauf?
Ich balancierte die Schuhschachteln hinter den Vorhang und pfefferte sie ins erstbeste Regal, in dem noch Platz war. Das machte ich immer so. Bonnie-Denise zuliebe. Sie war ganz versessen aufs Ordnen und Schichten.
Ein letzter Blick in den Spiegel. Nicht gut. Ich sah absolut scheiße aus, mehr noch als sonst. Ich nahm die Brille ab und beugte mich so weit vor, dass ich mit der Nase gegen den Spiegel stieß. Einmal dem Piraten so nahe sein … Ich setzte die Brille wieder auf und rubbelte mit den Händen über meine Wangen, um wenigstens dort ein bisschen Farbe zu bekommen. Es war Ende August, Ende eines Jahrhundertsommers, und ich war weißer als der weiße Hai, fast so schlimm wie in den Wintermonaten, in denen ich weißer war als das kleine Gespenst.
»Keine Farbpigmente, das Kind, fast ein Albino«, hatte meine Mutter jahrelang jedem, der nicht schnell genug war, zugeflüstert. »Ich hab doch braune Haare und braune Augen«, hatte ich aufbegehrt, woraufhin mir Mama einen Blick zuwarf, der zwischen »Was weißt du schon?« und »Wer weiß, wie lange noch!« lag.
Ich reckte das Kinn hoch. Mein Hals immerhin hatte Farbe. Aber leider nicht die gute Sorte: rote, kreisrunde Flecken, die sich auf den Wangen sicher ganz reizend ausgenommen hätten, überall anders aber nach Ausschlag aussahen. Ich schnappte mir eines von den Seidentüchern, die wir verkauften, und wickelte es mir um den Hals. Ich dachte sogar daran, es so zu knoten, dass das Preisschild zwischen Hals und Tuch verschwand. Das olivfarbene Leinenkleid, das ich trug, hing wie ein Sack an mir herunter – und trotzdem zeichneten sich die Schenkel links und rechts als Beulen ab. Ich kramte das Reservemiederhöschen aus meinem Rucksack und quetschte meine Hüften hinein.
Zwei juckende Miederhöschen übereinander. Das war ich. Teddy Kis.
Auf dem Weg zum Mann meiner Träume. Zum Piraten.
Vor vier Monaten war er mit all seinen Büchern in den Laden nebenan eingezogen. Er hatte in bunten Lettern die Worte Libri Liberi auf ein Schild gemalt und saß seither wochentags von zehn bis neunzehn Uhr zwischen den ganzen abgegriffenen Heften und Büchern und verkaufte sie für zwei Euro und weniger das Stück.
Jeden Abend kaufte ich bei ihm ein Buch. Ich ließ mir beim Aussuchen Zeit, erst, wenn ich die allerletzte Kundin war, ging ich zur Kassa. Beim Zahlen sah ich ihn nie an – was natürlich unsinnig war, aber ich hatte nicht viel Vertrauen in mich, was das Unterdrücken von hysterischen Kicheranfällen betraf. Dafür drückte ich ihm den Schein so in die Hand, dass wir dabei Hautkontakt hatten. Ich zahlte immer mit einem Schein. Das Wechselgeld, das ich von ihm bekam, legte ich in der Nacht unter mein Kopfkissen. Und am nächsten Tag in den Schuhkarton, der unter meinem Bett stand. Um die achthundert Münzen lagen darin. Er war voll. Kein Platz mehr für weiteres Wechselgeld.