Aschenpummel (German Edition)(3)
Doch ich ermahnte mich sofort, wieder Haltung anzunehmen, schließlich kann auch die anmutigste Frau mal ein kleines bisschen ins Stolpern geraten. Jetzt war es an der Zeit, mich auf mein eigentliches Ziel zu konzentrieren: endlich den Piraten zu verführen.
Abgesehen von ein paar Drehständern gab es nur drei lange Regale im Libri Liberi. Es war mir schleierhaft, wie der Pirat von seinen Einnahmen leben konnte, aber gleichzeitig fand ich die Vorstellung, dass er ein völlig armer Schlucker war, irrsinnig romantisch. Die Reihenfolge der Bücher in den Regalen kannte ich in- und auswendig. Jeden Abend hätte ich ganz genau sagen können, welche fehlten und welche neu dazugekommen waren. Zu den Ständern ging ich nie – zu exponiert. Auch zwei Miederhöschen bewirkten keine Wunder.
Ich blieb also auch jetzt hinter meinem Regal. Zog ein paar Bücher heraus und stellte sie wieder hinein. Dann zog ich die nächsten heraus. Ein kleines bisschen gleichmäßigen Lärm machen, das war gut, um keine peinliche Stille entstehen zu lassen. Ich schob einen Gebrüder-Grimm-Sammelband zurück ins Regal und behielt einen Duden in der Hand. Ganz vorsichtig bewegte ich mich an den Rand des Regals. Ich streckte den Kopf vor und lugte in Richtung Schreibtisch. Der Pirat hielt den Blick gesenkt und las in einem vergilbten Heft.
Sein schwarzes Haar schimmerte. Er sah so schön aus, dass es wehtat. Alles, alles würde ich für ihn tun. Sein rechter Zeigefinger schob sich unter die Augenklappe. Ich schluckte. Prinz Charles fiel mir ein, der einst Camillas Tampon hatte sein wollen. Die Welt hatte das komisch gefunden, doch ich verstand ihn – oh, könnte ich nur die Augenklappe des Piraten sein …
Ich sank hinter das Regal zurück. Wenn nur heute nicht schon Freitag wäre. Wenn nur in zwei Tagen nicht schon wieder Sonntag wäre. Wenn nur letzten Sonntag nicht die Sache mit dem Auto passiert wäre. Wenn Mama nur nicht Mama wäre und vor allem ich nicht ich! Ich konnte vor Kummer schon nicht mehr schlafen, die letzten Nächte hatte ich mich nur mehr im Bett gewälzt. Oder ich hatte dagelegen wie ein Käfer, der sich tot stellt, weil er weiß, dass er gefressen wird, sobald er sich rührt. Doch jede Nacht hatte mich der Gedanke getröstet, dass ich den Piraten am nächsten Tag wiedersehen würde.
Aber heute war das anders. Heute war Freitag. Und samstags hatte das Libri Liberi geschlossen. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Regal. Die Angst vor Mama trieb mir die Tränen in die Augen. Die Kehle tat mir weh, so sehr musste ich plötzlich ein Schluchzen unterdrücken. Rotz lief aus meiner Nase und bildete eine Blase unter dem linken Nasenloch. Unwillkürlich schnaufte ich, und es hallte so laut in dem stillen Raum wider, dass ich vor Schreck die Augen aufriss. Ich räusperte mich vernehmlich und schlug hektisch den Duden auf und geräuschvoll wieder zu.
Wenn ich das Wochenende überstehen sollte, dann brauchte ich jetzt ein Wunder. Unbedingt. Von mir aus auch nur ein ganz kleines. Oder, oder zumindest ein Zeichen, von irgendwoher ein Zeichen … bitte …
Der Duden! Ich blätterte ihn irgendwo auf, schloss die Augen und tippte blind mit dem Zeigefinger auf ein Wort. »Beatmen« stand da. Und »med: besondere Gasgemische in die Atemwege einführen«. O Gott, Gasgemische, was für Gasgemische? Ich sollte also sterben? Das war mein Zeichen? Das war eine Frechheit!
Ich hörte, wie der Pirat den Stuhl zurückschob. Er stand auf. Wollte, dass ich ging, damit er das Geschäft absperren konnte. Nein, nein, bitte noch nicht – halt! Jetzt hatte ich es! Nicht »Gasgemische«, »beatmen«, das war mein Zeichen! Also los! Ich wankte hinter dem Regal hervor, beide Hände aufs Herz gepresst. Aus meinem Mund drang ein schauerlicher Laut. Es klang erbärmlich, dilettantisch, doch es gab kein Zurück. Der Pirat stand hinter dem Schreibtisch und starrte mich mit seinem einen Auge an.
»Aaaaaaaahhh«, machte ich gequält, kniff die Augen zu, knickte in den Knien ein, vollführte eine halbe Drehung und ließ mich auf den Hintern und schließlich auf den Kopf fallen. Es war dermaßen peinlich, dass ich mich fast darüber freute, wie weh das tat.
»Frau Kis!« Beinahe hätte ich die Augen wieder aufgerissen. Er wusste meinen Namen. Er – wusste – meinen – Namen!
Die Hand, die meine nahm, war kühl. Ich fühlte ein Streicheln auf der Wange. Oh Shiti, ich hatte vergessen, die Luft anzuhalten. Jemanden, der wie eine Dampflok schnauft, braucht man nicht zu beatmen. Mit flatternden Lidern öffnete ich die Augen. Er war über mich gebeugt. Er sah wunderschön aus.